Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
wir auf den Namen Dottor Filipetto gestoßen.« Er hielt inne, um zu sehen, ob sie nachfragen oder den Namen des Notars kommentieren würde, aber sie blieb stumm. »Und nun bin ich zu Ihnen gekommen«, fuhr er fort, »weil Sie mir vielleicht sagen können, was Claudia von ihm wollte.«
»Ah, jetzt ist es also schon Claudia, wie?« bemerkte sie spitz.
»Verzeihen Sie?« fragte Brunetti ratlos.
»Sie sprechen von ihr, als ob Sie befreundet gewesen wären«, versetzte sie gereizt. »Claudia!« wiederholte sie empört, und Brunetti sah das Mädchen auf einmal wieder lebhaft vor sich.
Was war wohl der schlimmere Verstoß gegen die Intimsphäre, überlegte Brunetti, einen Menschen kurz nach dem Sex aufzuschrecken oder die Totenruhe zu stören? Vermutlich letzteres, weil die Toten jeder Möglichkeit zu Täuschung oder Heuchelei beraubt waren. Nackt und bloß lagen sie da und scheinbar so verletzlich, obwohl sie doch aller Verwundbarkeit und allem Schmerz entrückt waren. Wer sagt: Ich bin hilflos, der hofft immer noch, daß ihm geholfen wird. Aber die Toten sind darüber hinaus, für sie gibt es keine Hilfe und keine Hoffnung mehr.
»Ich wünschte, wir hätten Freunde werden können«, sagte Brunetti.
»Warum? Damit Sie auch sie hätten aushorchen und sich in ihre Geheimnisse einschleichen können?«
»Nein, Signora, um mich mit ihr über die Bücher zu unterhalten, die wir beide gelesen haben.«
Signora Jacobs schnaubte halb ungläubig, halb verächtlich.
Fasziniert von dem Gedanken, daß Claudia Geheimnisse hatte, zugleich aber auch gekränkt, begann Brunetti sich zu verteidigen. »Sie hat bei meiner Frau studiert. Und einmal hatten wir bereits ein Gespräch über Bücher.«
»Bücher!« echote sie, und diesmal obsiegte die Verachtung. Sie hatte sich so ereifert, daß es ihr den Atem verschlug, was wiederum einen heftigen Hustenanfall auslöste. Ein tiefer, feuchter Raucherhusten und so hartnäckig, daß Brunetti schließlich in die Küche lief, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Er wartete geduldig, bis sie den Trank in kleinen Schlucken hinuntergewürgt hatte und endlich aufhörte zu husten.
»Danke«, sagte sie ganz selbstverständlich und reichte ihm das Glas.
»Gern geschehen«, erwiderte er ebenso unbefangen, stellte das Glas auf den Sekretär und rückte seinen Stuhl so zurecht, daß er ihr gegenübersaß.
»Signora«, begann er, »ich weiß nicht, wie Sie zur Polizei stehen oder was Sie von mir halten, doch Sie müssen mir glauben, daß ich alles daransetze, Claudias Mörder zu finden. Aber wenn es sich irgend vermeiden läßt, will ich dabei an nichts rühren, was sie lieber geheimgehalten hätte. Sofern das überhaupt möglich ist, soll sie in Frieden ruhen.« Während er sprach, schaute er die alte Frau so unverwandt an, als beschwöre er sie, ihm zu glauben.
Signora Jacobs zündete sich die nächste Zigarette an. Wieder inhalierte sie so tief, daß Brunetti schon ängstlich auf den nächsten Hustenanfall wartete. Aber es kam keiner. Während die Kippe in der blauen Schale verglomm, sagte sie: »Dafür hat man in ihrer Familie kein Talent.«
»Wofür?« fragte er verdutzt.
»In Frieden zu ruhen. Bei denen lief nichts friedlich ab.«
»Es tut mir leid, aber ich kenne niemanden aus der Familie - außer Claudia.« Er überlegte, wie er die nächste Frage formulieren sollte, ließ dann aber alle Vorsicht fahren und bat gerade heraus: »Würden Sie mir etwas über ihre Familie erzählen?«
Sie hob die Hände zum Gesicht, legte die Fingerspitzen aneinander und führte sie an die Lippen wie zum Gebet, wenngleich Brunetti das Gefühl hatte, daß es lange her war, seit diese Frau zum letztenmal um etwas oder zu jemandem gebetet hatte.
»Sie wissen, wer ihr Großvater war«, sagte sie. Brunetti nickte. »Und ihr Vater?« Er schüttelte den Kopf.
»Er wurde im Krieg geboren, also nannte sein Vater ihn Benito.« Sie sah ihn an und lächelte, als hätte sie einen Scherz gemacht, aber Brunetti lächelte nicht zurück. Er wartete darauf, daß sie weitersprach.
»Das war so Lucas Art.«
Für Brunetti war Luca Guzzardi nichts als ein Opportunist, ein Mitläufer, der in einem Irrenhaus gestorben war. Also schwieg er lieber. .
»Er hat wirklich an all das geglaubt: die Aufmärsche und die Uniformen und die triumphale Wiederauferstehung des Römischen Reiches.« Sie schüttelte nachsichtig den Kopf, aber diesmal ohne zu lächeln. »Zumindest anfangs glaubte er daran.«
Brunetti hatte keine Ahnung, und in
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