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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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plötzlich aussah wie der Geist eines der Söhne des unglücklichen Grafen Ugolino.
    Als Signora Ferro das Gespräch beendet hatte, saß Brunetti da und stellte fest, daß er nach diesem Anruf kaum mehr wußte als zuvor.
    Unterdessen lag sein Büro fast im Dunkeln. Die blasse Spätherbstsonne war hinter dem Horizont versunken, und die Ziffern auf dem Tastenfeld seines Telefons waren kaum noch zu erkennen. Als er zur Tür ging und das Licht anknipste, verblüffte ihn der ungewohnte Anblick seines Schreibtischs, den er offenbar während des Gesprächs mit Signora Ferro selbstvergessen aufgeräumt hatte: In der Mitte türmte sich ein Stoß Akten, daneben lag ein Blatt Papier mit einem genau waagrecht darauf plazierten Stift. Unwillkürlich erinnerte er sich an die zwanghafte Ordnung im Haus seiner Mutter, bevor sie dem Altersschwachsinn verfiel, der sie nicht mehr loslassen sollte, und daran, wie explosionsartig dieser wohlgeordnete Haushalt in den letzten Monaten, bevor sie ins Heim kam, in Auflösung geriet.
    Als er wieder am Schreibtisch saß, fühlte er sich plötzlich so erschöpft, daß er am liebsten die Augen geschlossen und den Kopf auf die Tischplatte gelegt hätte. Über zehn Stunden waren vergangen, seit man ihn und seine Leute nach San Martino gerufen hatte, Stunden, in denen Tod und Leid sich in ihn eingesogen hatten wie Tinte in ein Löschblatt. Nicht zum ersten Mal in seiner Laufbahn stand er vor der Frage, wie lange er diesen Beruf noch würde ausüben können. Früher hatte er sich in solchen Momenten mit der Aussicht auf einen erholsamen Urlaub getröstet, und oft hatten ein paar Wochen Abstand von der Stadt und ihren Verbrechen sein Gemüt tatsächlich wieder aufgehellt, zumindest solange er fort war. Doch er konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein räumlicher oder zeitlicher Abstand gegen dieses Gefühl der Ohnmacht und Sinnlosigkeit helfen würde, das jetzt allenthalben auf ihn einstürmte.
    Er hätte versuchen sollen, Signora Moro zu erreichen, befahl sich auch, nach dem Telefon zu greifen, aber er brachte es nicht fertig. Wer war es doch gleich, dessen Blick Menschen zu Stein verwandeln konnte? Der Basilisk? Die Meduse? Er sah sie vor sich: die Schlangen, die ihr Haupt wie zerzauste Locken umzüngelten, den schmerzvoll aufgerissenen Mund, den irren Blick, aber er wußte nicht mehr, wer sie gemalt oder in Stein gehauen hatte.
    Sein Aufbruch aus der Questura glich einer Flucht. Zumindest empfand er es so, als er dem wohlgeordneten Schreibtisch den Rücken kehrte und, ohne den Stuhl zurechtzurücken oder die Tür zu schließen, aus dem Präsidium stürmte und wie gehetzt nach Hause lief.
    Seine Nase brachte ihn wieder zur Besinnung. Kaum daß er die Wohnungstür geöffnet hatte, schlugen ihm aus der Küche köstliche Düfte entgegen: irgendein Braten, wahrscheinlich Schwein, dazu eine so durchdringende Knoblauchwürze, als hätte Paola ein ganzes Beet abgeerntet und mit dem Fleisch ins Rohr geschoben.
    Als er an der Garderobe sein Jackett aufhängte und dabei merkte, daß er die Aktenmappe im Büro vergessen hatte, zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern. Er hatte gehofft, seine Familie bereits um den Tisch versammelt zu finden, aber die Küche war leer bis auf die Knoblauchschwaden, die einem hohen Topf entstiegen, der auf kleiner Flamme köchelte.
    Brunetti sog den Duft in vollen Zügen ein und versuchte das dazugehörige Gericht auszumachen. Er war ihm so vertraut wie eine liebgewordene Melodie, von der man nur nicht weiß, aus welchem Stück sie stammt. Vielleicht würden die Zutaten weiterhelfen: Tomaten, ein Hauch Rosmarin, etwas Fischiges wie Muscheln oder Shrimps - eher Shrimps - und vielleicht noch Möhren. Und über allem Knoblauch, ein Meer von Knoblauch. Brunetti beschwor die Verzweiflung herauf, die ihn vorhin im Büro überkommen hatte, und atmete ganz tief, in der Hoffnung, der Knoblauch würde sie verjagen. Wenn man damit Vampire austreiben konnte, dann mußte sein Kräuterzauber doch auch gegen etwas so Banales wie Verzweiflung wirken. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich gegen den Türstock und sog den würzigen Duft ein, bis eine Stimme hinter ihm sagte: »Das ist aber nicht die stolze Haltung eines Ritters der Unterdrückten und Entrechteten.«
    Paola küßte ihn auf die Wange, ohne ihn richtig anzusehen, und schlüpfte an ihm vorbei in die Küche.
    »Ist das Guglielmos Suppe?«
    »Erraten«, sagte sie, hob den Deckel vom Topf und rührte mit einem langen Holzlöffel

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