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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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bald dasein.« Sie sagte es fast beiläufig, aber das Wort »Kinder« klang beiden in den Ohren wie die Versicherung, daß zumindest in ihrer Familie noch alles gut war. Gleich einem Pferd, das plötzlich die Gangart wechselt, um einer Grube vor seinen Vorderläufen auszuweichen, schlug sie plötzlich einen gekünstelt fröhlichen Ton an und fügte hinzu: »Und dann können wir essen.«
    Brunetti ging ins Wohnzimmer. Er stellte das Glas auf den Tisch, setzte sich aufs Sofa und griff nach dem Buch, das er gerade las: die Lebensbeschreibung des byzantinischen Kaisers Alexios, aufgezeichnet von seiner Tochter Anna Comnena. Als Chiara eine halbe Stunde später hereinkam, um ihren Vater zum Essen zu rufen, hielt er das aufgeschlagene Buch im Schoß und starrte blicklos hinaus auf die Dächer der Stadt.

10
    S o sehr Brunetti auch gehofft hatte, daß ein Gespräch mit Paola ihm helfen würde, den Schock über den Tod des Jungen zu lindern, es gelang nicht. Sie waren schon zu Bett gegangen, und Paola lag zusammengekuschelt neben ihm, als er ihr endlich alles erzählte. Ein makabres Thema vor dem Einschlafen, wie er selber fand, trotzdem ließ er nichts aus und verschwieg auch nicht, daß er, statt sich mit Signora Moro in Verbindung zu setzen, in einem Anfall von Panik aus dem Büro geflüchtet war. Als er geendet hatte, stützte Paola sich mit dem Ellbogen aufs Kissen, blickte ihm von oben ins Gesicht und fragte: »Wie lange wirst du das noch aushalten, Guido?«
    Er betrachtete abwechselnd ihr Profil im fahlen Mondschein und die Lichtreflexe der Terrassenfliesen im Spiegel an der Wand gegenüber.
    Paola ließ ihm ein paar Minuten Zeit, dann versuchte sie es noch einmal: »Guido, ich hab dich was gefragt.«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Darüber kann ich erst nachdenken, wenn der Fall abgeschlossen ist.«
    »Aber wenn sie sagen, es war Selbstmord, dann ist er doch schon abgeschlossen, oder?«
    »Ach, das zählt nicht«, sagte er wegwerfend. »Ich meine wirklich abgeschlossen.«
    »Soll heißen für dich?« Wenn sie sonst so fragte, wollte sie ihn herausfordern, vielleicht sogar ein bißchen necken, aber heute abend ging es ihr nur darum, ihn zu verstehen.
    »Ja, vermutlich«, gab er zu.
    »Und wann wird es soweit sein?«
    Er war so erschöpft, daß er die Augen kaum noch offenhalten konnte. Eine wohlige Müdigkeit empfing ihn mit weichen Armen, um ihn in den Schlaf zu wiegen. Als er sich dieser fremden Umarmung für einen Moment überließ, weitete sich der Raum, und während der Schlaf sich über seine Lider senkte, zerfiel der Fall Moro in drei Ereignisse, die zufällig ein und dieselbe Familie betrafen. »Wenn die Zeichen verschwinden«, murmelte er und war auch schon eingeschlafen.
    Am nächsten Morgen erwachte er ahnungslos wie ein Kind. Als die ersten vom Spiegel reflektierten Sonnenstrahlen sein Gesicht trafen und ihn aus dem Schlaf kitzelten, konnte er sich zunächst nicht erinnern, was gestern gewesen war. Er rutschte ein Stück nach rechts, und erst als sein Körper spürte, daß Paola nicht mehr neben ihm lag, schlug er die Augen auf, wandte den Kopf nach links, dem Glockenturm von San Polo zu, der so hell von der Sonne beschienen war, daß man sogar die grauen Betonkleckse ausmachen konnte, die das Mauerwerk zusammenhielten. Eine Taube segelte auf das Kranzgesims unter dem Turmdach zu, bremste kurz vor dem Ziel mit weit gespreizten Schwingen ab und legte eine weiche Landung hin. Zweimal drehte sie sich noch um die eigene Achse und trippelte flatternd hin und her, bevor sie, das Köpfchen unter den Flügel gesteckt, zur Ruhe kam.
    Solange der Vogel sich bewegte, erinnerte er durch nichts an die Ereignisse des vergangenen Tages, aber kaum daß sein Kopf unter dem Flügel verschwand, sah Brunetti schlagartig Ernesto Moros Gesicht vor sich, das Vianello mit einem Zipfel des Paletots verhüllte.
    Er stand auf und mied auf dem Weg ins Bad geflissentlich den Spiegel. Doch als er sich nach dem Duschen rasierte, konnte er dem eigenen Gesicht nicht länger ausweichen, und da tauchten hinter den Augen, die ihn aus dem Spiegel ansahen, die matten, erloschenen Blicke all der gramgebeugten Eltern auf, denen er je hatte mitteilen müssen, daß sie ihr Kind niemals wiedersehen würden. Wie erklärte man den Tod eines Kindes? Und selbst wenn man ihn erklären konnte, wie hätte man mit Worten den wilden Schmerz eindämmen sollen, den eine solche Nachricht auslöste?
    Paola und die Kinder waren längst fort, also

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