Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
verließ auch er das Haus, um auf dem Weg ins Präsidium in einer kleinen pasticceria zu frühstücken, wo die Unterhaltung sich auf belanglosen Small talk beschränken würde. Am Kiosk auf dem Campo Santa Marina kaufte er Il Tempo und Il Gazzettino und ging dann auf einen Kaffee und eine Brioche ins Didovich.
    SELBSTMORD AN VENEZIANISCHER ELITESCHULE meldete Il Tempo im Lokalteil, während Il Gazzettino mit der Schlagzeile aufmachte: SOHN VON EX-ABGEORDNETEM IN SAN MARTINO TOT AUFGEFUNDEN. In einem kleinen Infokasten konnten die Bürger von Venedig lesen, daß der Vater des Opfers aus dem Parlament ausgeschieden war, nachdem der zuständige Minister seinen heftig umstrittenen Gesundheitsreport zurückgewiesen hatte; daß die Polizei den Tod des Jungen untersuchte und daß die Eltern getrennt lebten. Ganz gleich, welche Informationen der Artikel im Innenteil noch liefern mochte: Nach diesem Einstieg würde sich bei jedem Leser unwillkürlich der Verdacht einstellen, daß die Eltern oder ihre Lebensweise irgend etwas mit dem Tod des Jungen zu tun hätten, ja womöglich sogar daran schuld seien.
    »Schrecklich, nicht? Das mit diesem Jungen?« sagte eine Frau am Tresen zum Wirt und wies mit der Hand auf Brunettis Zeitung. Kopfschüttelnd biß sie in ihre Brioche.
    »Was ist nur mit der heutigen Jugend los? Denen wird doch so viel geboten. Wieso sind sie immer noch unzufrieden?« fragte eine zweite Frau.
    »Weil die Eltern sich nicht genug um sie kümmern«, behauptete wie aufs Stichwort eine dritte, ungefähr im gleichen Alter und mit klimakteriumsrot gefärbtem Haar. Klirrend setzte sie ihre Kaffeetasse auf die Untertasse. »Ich bin seinerzeit zu Hause geblieben und habe meine Kinder selber großgezogen, darum ist bei uns auch nie so was passiert.«
    Ein Zuhörer aus einem fremden Kulturkreis hätte den Eindruck gewinnen können, Kindern berufstätiger Mütter bliebe hierzulande nur der Weg in den Selbstmord. Die drei Frauen schüttelten einmütig den Kopf über diesen neuerlichen Beweis für die Undankbarkeit der Jugend und die Verantwortungslosigkeit aller Eltern, sie selbst ausgenommen.
    Brunetti faltete seine Zeitungen zusammen, zahlte und verließ die pasticceria. Von den gelben Postern an der Rückwand des Kiosks gellten ihm die nämlichen Schlagzeilen entgegen. Wenn ihn in diesem Fall etwas über die Verlogenheit der Presse hinwegtrösten konnte, dann höchstens die Gewißheit, daß solche Angriffe an den leidgeprüften Moros nur wirkungslos abprallen würden.
    In der Questura ging er direkt in sein Büro, wo ihn auf dem Schreibtisch schon etliche neue Akten erwarteten. Er rief Signorina Elettra an, die sich mit den Worten meldete:
    »Er will Sie umgehend sprechen.«
    Inzwischen wunderte er sich nicht mehr darüber, daß Signorina Elettra immer gleich wußte, wer am Apparat war: Sie hatte einen stattlichen Anteil des Polizeietats investiert, um sich von der Telekom eine Anlage installieren zu lassen, bei der unter anderem im Display die Nummer des Anrufers erschien. Leider erlaubte die angespannte Haushaltslage es nicht, noch weitere Büros mit solchen Komfortanschlüssen auszustatten. Brunetti wußte auch, wer mit dem namenlosen »Er« gemeint war, denn so titulierte sie nur ihren direkten Vorgesetzten, Vice-Questore Giuseppe Patta.
    »Umgehend: jetzt gleich?«
    »Ich würde sagen, umgehend gestern nachmittag.«
    Also ließ Brunetti die Akten ungeöffnet liegen und lief nach unten. Er hatte erwartet, Signorina Elettra am Schreibtisch anzutreffen, aber ihr Zimmer war leer. Und als er den Kopf zur Tür hinausstreckte, war sie auch auf dem Flur nicht zu entdecken.
    Da er Patta nur sehr ungern entgegentrat, ohne zu wissen, in welcher Stimmung er war oder weshalb er ihn sprechen wollte, erwog Brunetti, wieder hinaufzugehen und erst einmal die Akten einzusehen oder im Dienstzimmer nachzuschauen, ob Vianello und Pucetti schon eingetroffen waren. Während er noch unschlüssig dastand, öffnete sich die Tür zum Büro des Vice-Questore, und Signorina Elettra trat heraus, heute in einer Art Bomberjacke (sofern man sich einen Bombenschützen in einer Uniform aus apricotfarbener Rohseide vorstellen konnte) mit weiten Keulenärmeln und eng geknöpfter Taille.
    Patta, der vom Schreibtisch aus freie Sicht ins Vorzimmer hatte, rief von drinnen: »Ich hätte Sie gern gesprochen, Brunetti.« Der Commissario warf Signorina Elettra einen fragenden Blick zu, aber sie konnte nur rasch die Lippen zusammenpressen, was entweder

Weitere Kostenlose Bücher