Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Moros Privatnummer meldete sich der Anrufbeantworter. Ebenso in seiner Praxis, wo die Patienten bis auf weiteres an Dr. D. Biasi verwiesen wurden, dessen Sprechzeiten und Telefonnummer folgten. Brunetti wählte noch einmal die erste Nummer, hinterließ seinen Namen und die Durchwahl in der Questura und bat um Rückruf.
Dann also die Mutter. Signorina Elettra hatte ihm eine Kurzbiographie zusammengestellt. Federica Moro war Venezianerin wie ihr Mann, die beiden kannten sich schon seit dem liceo. Nach der Schule waren sie gemeinsam zum Studium nach Padua gegangen, wo Fernando Medizin belegte, Federica Kinderpsychologie. Nach dem Examen heirateten sie und kehrten, als Moro eine Stelle im Ospedale Civile angeboten bekam, nach Venedig zurück, wo seine Frau eine Privatpraxis eröffnete.
Die überstürzte Trennung des Paares, unmittelbar nach Federicas Unfall, hatte jeden in ihrem Freundeskreis überrascht. Scheiden ließen sie sich nicht, und keiner von beiden schien eine neue Partnerschaft eingegangen zu sein. Es gab aber auch keine Anzeichen dafür, daß die Eheleute weiter Kontakt zueinander hielten, außer über ihre Anwälte.
Signorina Elettra hatte den Bericht über Ernesto Moros Tod aus La Nuova außen an den Ordner geheftet. Neben dem Artikel war ein Familienfoto abgedruckt mit der Unterschrift: »Aus glücklichen Tagen«.
Federica Moros Lächeln war der Blickfang dieses Fotos. Sie hatte den rechten Arm um ihren Mann gelegt, ihr Kopf lehnte an seiner Brust, während sie mit der anderen Hand ihrem Sohn das Haar zerzauste. Es war eine Strandaufnahme, die Familie posierte gebräunt, in Shorts und T-Shirts, und alle drei strahlten vor Glück und Gesundheit. Hinter ihnen lugte, rechts von Moro, der Kopf eines Schwimmers ins Bild. Das Foto mußte etliche Jahre alt sein, denn Ernesto war noch ein Kind. Federica sah nicht in die Kamera, und die beiden anderen schauten sie an, Ernesto mit offenem, stolzem Blick - wer wäre nicht stolz gewesen, eine so schöne Frau zur Mutter zu haben. Fernando wirkte abgeklärter, aber nicht weniger stolz.
Einer der drei hatte offenbar gerade eine lustige Bemerkung gemacht, oder aber sie hatten etwas am Strand gesehen, das sie zum Lachen brachte. Oder hatte vielleicht der Fotograf den Clown gespielt? Brunetti fiel auf, daß von allen dreien Federica die Haare am kürzesten trug. Der burschikose Herrenschnitt bildete einen aparten Kontrast zu ihrer fraulich üppigen Figur und der natürlichen Anmut, mit der sie ihren Mann umarmte.
Wer konnte es wagen, jetzt ein solches Foto zu veröffentlichen, und wer mochte es der Zeitung überlassen haben, wohl wissend, wie die es verwenden würde? Brunetti zog die Büroklammer ab und schob den Ausschnitt in den Ordner. Auf dem Deckblatt stand die gleiche Telefonnummer, die Signora Ferro ihm gegeben hatte. Brunetti wählte, dachte aber nicht an Signora Ferros Weisung, er solle es einmal klingeln lassen, dann auflegen und erneut wählen.
Beim vierten Rufzeichen meldete sich eine Frauenstimme mit einem knappen »Sì?«
»Signora Moro?« fragte Brunetti. »Sì.«
»Signora, hier spricht Commissario Guido Brunetti. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich die Zeit nehmen würden, mit mir zu reden.« Er wartete auf ihre Antwort, und als keine kam, setzte er hinzu: »Über Ihren Sohn.«
»Aah«, sagte sie. Und dann kam lange nichts mehr.
»Warum melden Sie sich jetzt erst?« fuhr sie endlich fort, irritiert, daß sie zu dieser Frage genötigt war, die womöglich doch einen Funken von Interesse bekunden mochte.
»Ich wollte Sie in Ihrem Kummer nicht eher behelligen, Signora.« Und als sie schwieg, setzte er hinzu: »Mein aufrichtiges Beileid.«
»Haben Sie Kinder?« fragte sie überraschend zurück.
»Ja, Signora.«
»Wie alt?«
»Ich habe eine Tochter«, begann er und schickte dann in einem Atemzug nach, was gesagt werden mußte. »Mein Sohn ist so alt wie Ihrer.«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Sie schien überrascht, daß er sich einen so wirkungsvollen persönlichen Einstieg hatte entgehen lassen.
Brunetti, dem keine passende Entgegnung einfiel, fragte schlicht: »Dürfte ich Sie besuchen kommen, Signora?«
»Wann immer Sie wollen«, sagte sie, und es klang, als ob sich Tage, Monate, Jahre, ja ein ganzes Leben unterschiedslos vor ihr ausdehnten.
»Wäre es Ihnen jetzt recht?«
»Jetzt oder später - was macht das für einen Unterschied?« Sie fragte das sehr ernst, ganz ohne Sarkasmus oder Selbstmitleid.
»Ich
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