Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Nervosität tabu.«
»Aber das ist doch lächerlich, oder?«
Brunetti nickte und erinnerte sich im selben Moment, daß sie Psychologin war.
Er räusperte sich und fragte: »Könnten wir wohl noch einmal von vorn anfangen, Signora?«
Sie antwortete mit einem kaum merklichen Lächeln, ein trauriger Abglanz des strahlenden Gesichts auf dem Foto, das immer noch auf seinem Schreibtisch lag. »Es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben. Was wollen Sie denn wissen?«
»Zunächst einmal interessiere ich mich für Ihren Unfall, Signora.«
Sie war sichtlich verwirrt, was Brunetti durchaus verstand. Ihr Sohn war vor wenigen Tagen unter nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen, und da kam er und erkundigte sich nach einem Vorfall, der über zwei Jahre zurücklag. »Meinen Sie die Sache in Siena?« fragte sie schließlich.
»Ja.«
»Und wieso interessieren Sie sich ausgerechnet jetzt dafür?«
»Weil damals offenbar niemand richtig hingesehen hat.«
Mit seitwärts geneigtem Kopf dachte sie über seine Antwort nach. »Verstehe«, murmelte sie endlich und fragte dann: »Hätte denn damals Grund bestanden, näher hinzusehen?«
»Ebendas hoffe ich herauszufinden, Signora.«
Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen, und Brunetti blieb nichts weiter übrig, als zu warten, ob sie ihm ihre Sicht der Dinge anvertrauen würde. Während die Minuten verstrichen, schielte sie zweimal zu den Zigaretten hin, und beim zweiten Mal hätte er sie fast ermuntert: Rauchen Sie nur, es macht mir nichts aus. Aber er sagte nichts, ließ nur den Blick durch das spärlich möblierte Zimmer schweifen. Ihr Sessel, sein Stuhl, der Tisch, die Vorhänge an den Fenstern - nichts davon hätte auch nur im entferntesten einem Vergleich mit dem gediegenen Reichtum in Fernando Moros Wohnung standgehalten. Hier konnte von Stil keine Rede sein, nichts war aufeinander abgestimmt bei dieser kargen Einrichtung, die nur den notwendigsten Bedürfnissen Rechnung trug.
Überrascht blickte der Commissario auf, als Signora Moro endlich doch zu sprechen begann. »Wir waren übers Wochenende bei unseren Freunden in Siena eingeladen. Ich war am Freitag morgen vorausgefahren, Fernando sollte abends, gegen zehn, mit dem letzten Zug nachkommen. Es war ein herrlicher Tag, Spätherbst, so wie jetzt, aber noch angenehm warm, und so brach ich am Nachmittag zu einem Spaziergang auf. Ich war vielleicht einen halben Kilometer vom Haus entfernt, als mich ein ohrenbetäubender Knall erschreckte. Fast gleichzeitig spürte ich einen stechenden Schmerz im Bein und stürzte zu Boden; nicht so, als ob mich jemand gestoßen hätte, ich bin einfach zusammengesackt.«
Sie sah ihn forschend an, wie um festzustellen, ob ihn das auch wirklich interessiere. Allein er nickte, und sie fuhr fort: »Ich war so benommen, daß ich mich nicht rühren konnte, ich lag da wie ein Stein. Dabei tat mein Bein gar nicht besonders weh. Dann hörte ich Geräusche aus dem nahen Wald. Na ja, Wald ist vielleicht übertrieben, sagen wir ein, zwei Morgen baumbestandenes Gelände. Jedenfalls hörte ich, wie sich dort etwas rührte, und wollte schon um Hilfe rufen, aber dann - ich weiß selbst nicht, warum - blieb ich einfach still liegen.
Es vergingen ein paar Minuten, und plötzlich schossen aus der Richtung, aus der ich gekommen war, zwei Hunde auf mich zu und sprangen unter lautem Gekläff wie toll um mich herum. Ich rief sie an und versuchte vergebens, sie zu beruhigen. Inzwischen hatte ich starke Schmerzen im Bein, natürlich hatte ich auch die Schußwunde entdeckt und wußte, daß ich dringend Hilfe brauchte. Statt dessen hatte ich es mit zwei bellenden Hunden zu tun, die sich wie verrückt gebärdeten.«
Sie hielt inne und schwieg so lange, daß Brunetti nachhelfen mußte. »Und was geschah dann, Signora?«
»Die Jäger kamen mir zu Hilfe, oder vielmehr die Hundebesitzer. Als die Hunde ausbrachen, waren sie ihnen gefolgt, und als sie mich dort liegen sahen, dachten sie zuerst, ihre Hunde hätten mich angefallen. Darum gingen sie auf die beiden los und versuchten, sie mit den Gewehrläufen von mir fortzuscheuchen, aber die Hunde hatten mich ja nur verbellt. Wahrscheinlich haben sie mir sogar das Leben gerettet.«
Wieder machte sie eine Pause, doch da er offenbar keine Fragen hatte, fuhr sie fort: »Einer der Männer nahm sein Taschentuch und legte mir eine provisorische Aderpresse an, und dann trugen sie mich zu ihrem Jeep, der am Rand des Waldstücks parkte, und brachten mich ins Krankenhaus.
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