Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
brauche etwa zwanzig Minuten«, sagte Brunetti.
»Ich bin hier«, antwortete sie.
Brunetti hatte auf dem Stadtplan nachgesehen und sich den Weg eingeprägt. Er hätte das Vaporetto bis San Marco nehmen können, aber er zog es vor, zu Fuß die Riva entlangzugehen. Er überquerte die Piazza, bog vor dem Museo Correr ab und gelangte nach wenigen Schritten auf die vornehme Frezzeria. Nun die erste calle links und dort der zweite Eingang rechts. An der obersten Klingel stand ihr Name. Brunetti läutete, ohne eine Nachfrage über die Sprechanlage sprang die Tür auf, und er trat ein.
Der Hausflur war dunkel und feucht, obwohl in unmittelbarer Nähe kein Kanal vorbeiführte. Brunetti stieg in den dritten Stock hinauf und sah sich, oben angekommen, einer offenen Wohnungstür gegenüber. Als er auf seinen zögernden Zuruf »Signora Moro?« von drinnen eine Stimme vernahm, trat er ein, schloß die Tür hinter sich und ging den schmalen, mit einem billigen Webteppich ausgelegten Flur hinunter, einer schwachen Lichtquelle entgegen.
Rechter Hand stand eine Tür offen, und er trat ein. An der Wand gegenüber, vor den zwei Fenstern, durch deren Gardinen nur spärliches Licht hereinfiel, saß eine Frau in einem Sessel. Es roch nach Zigarettenrauch und Mottenkugeln.
»Commissario?« fragte sie und hob den Kopf.
»Ja«, antwortete er. »Danke, daß Sie mich empfangen, Signora.«
Sie wischte seine höflichen Worte mit einer Handbewegung beiseite, führte die Zigarette, die sie zwischen den Fingern hielt, zum Mund und nahm einen tiefen Zug. »Da drüben steht noch ein Stuhl«, sagte sie, blies den Rauch aus und wies auf einen Stuhl mit geflochtenem Sitz hinten an der Wand.
Brunetti holte ihn herüber und rückte ihn vor ihren Sessel, allerdings nicht zu nahe und ein Stück seitlich versetzt. Dann nahm er Platz und wartete darauf, daß sie das Gespräch eröffnete. Um nicht aufdringlich zu erscheinen, blickte er, statt sie anzusehen, aus dem Fenster, hinter dem, gleich jenseits der engen calle, die Front des Nachbarhauses aufragte. Kein Wunder, daß der Raum so wenig Licht bekam. Brunetti wandte sich nun doch seinem Gegenüber zu. Ungeachtet der schummrigen Beleuchtung erkannte er die Frau von dem Foto, nur daß sie jetzt aussah wie nach einer radikalen Fastenkur: Die Wangenknochen in dem abgemagerten Gesicht traten so scharf hervor, als wollten sie die Haut durchbohren. Vom Körper schienen unter dem dicken Pullover und den weiten dunklen Hosen nur noch Schulterblätter, Arme und Beine vorhanden.
Als ihm klar wurde, daß sie nicht den Anfang machen, sondern noch ewig so dasitzen und vor sich hin rauchen würde, räusperte sich Brunetti und begann: »Ich möchte Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Signora, wenn Sie ...«
Hier wurde er von einem plötzlichen nervösen Hustenreiz erfaßt.
»Vertragen Sie den Rauch nicht?« fragte sie und griff nach dem Aschenbecher auf einem Tischchen rechts neben sich, um die Zigarette auszudrücken.
Brunetti hob abwehrend die Hand. »Nein, der stört mich nicht«, keuchte er, bevor ein neuerlicher Hustenanfall ihm das Wort abschnitt.
Signora Moro machte die Zigarette aus und erhob sich. Als der krampfgeschüttelte Brunetti ebenfalls Miene machte aufzustehen, winkte sie ab und ging aus dem Zimmer. Ermattet ließ der Commissario, der nicht aufhören konnte zu husten, sich mit tränenden Augen in seinen Stuhl zurücksinken. Doch da kam Signora Moro schon zurück und reichte ihm ein Glas Wasser. »Schön langsam trinken«, sagte sie, »nur in kleinen Schlucken.«
Brunetti, der immer noch um Fassung rang, nickte dankbar, nahm das Glas und setzte es an die Lippen. Er wartete, bis seine Kehle frei war, trank einen Schluck und dann noch einen und wieder einen, bis er das Glas geleert hatte und allmählich wieder zu Atem kam. Hin und wieder stieg zwar noch ein Luftschwall aus der Lunge in die Kehle hoch, aber das Schlimmste war überstanden. Brunetti bückte sich und stellte das Glas auf den Boden. »Vielen Dank«, sagte er.
»Keine Ursache«, erwiderte sie und nahm ihren Platz wieder ein. Er sah, wie sie unwillkürlich nach rechts langte, wo das Zigarettenpäckchen auf dem Tisch lag, doch dann ließ sie die Hand in den Schoß sinken.
Sie schaute ihn offen an und fragte: »Nerven?«
Er lächelte. »Sieht so aus, ja, obwohl ich das vermutlich nicht zugeben dürfte.«
»Und warum nicht?« fragte sie, aufrichtig interessiert.
»Weil ich Polizist bin, und in unserem Beruf sind Unsicherheit und
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