Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
gelesen, die im stolzen Kampf für die Fahne ihr Leben ließen oder die gefallen waren, als sie tollkühn die Ehre ihres Regiments zu retten suchten, aber solche Heldentaten waren ihm von jeher sinnlos, ja sogar leicht beschränkt erschienen. Natürlich hatten auch ihn bisweilen die Beschreibung einer mutigen Attacke oder der Wortlaut der (leider allzuoft posthum erfolgten) Ordensverleihung an einen dieser tapferen, edelmütigen Soldaten im Innersten bewegt, aber gleich danach meldete sich sein nüchterner Verstand und erinnerte ihn daran, daß diese gefeierten Helden in Wahrheit halbe Kinder waren, die ihr Leben opferten für ein Ideal, das letztlich nicht mehr war als ein Fetzen Stoff. Mutige Jungs, gewiß, und tapfer, aber auch töricht bis zur Verblendung.
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Berichte, Rundschreiben und Protokolle, kurz, all der überschüssige Papierkram, der sich in ein paar Tagen vernachlässigter Büroarbeit anzusammeln pflegt. Brunetti nahm sich seufzend in die Pflicht und widmete sich die nächsten zwei Stunden einer Tätigkeit, die nicht minder sinnlos war als irgendeiner der waghalsigen Einsätze jener jungen Kriegshelden, denen er so skeptisch gegenüberstand. An den Festnahmeprotokollen wegen Einbruch, Taschendiebstahl und den diversen Betrugsdelikten, die gegenwärtig in den Straßen der Stadt verübt wurden, fiel ihm auf, wie oft die Täter neuerdings ausländische Namen hatten und wie viele von ihnen noch strafunmündig waren. Wobei ihm weniger die statistische Bilanz Kummer machte als vielmehr der Gedanke, daß jede dieser Festnahmen der Rechten eine neue Wählerstimme einbringen würde. Vor Jahren hatte er einmal eine Kurzgeschichte von einem amerikanischen Autor gelesen, die mit der Vision eines gewaltigen Regenbogens schloß, über den ein endloses Heer von Sündern in den Himmel Einzug hielt. Und manchmal hatte er den Eindruck, daß eine ebensolche Sünderschar sich langsam durch die Gefilde der italienischen Politik bewegte, freilich kaum in Richtung Paradies.
Sein Kopf war schon ziemlich benommen von der eintönigen Arbeit, als er auf einmal seinen Namen rufen hörte und, aufblickend, Pucetti in der Tür stehen sah.
»Ja, Pucetti?« sagte er und winkte den Beamten herein.
»Setzen Sie sich doch.« Und froh über diesen Vorwand, den Papierkram beiseite schieben zu können, wandte er sich dem Polizisten zu. »Also, was gibt's?« fragte er und stellte betroffen fest, wie jung Pucetti aussah in seiner adretten Uniform, viel zu jung für die Waffe, die an seiner Hüfte baumelte, viel zu unerfahren, um zu wissen, wie man damit umging.
»Es geht um den jungen Moro, Commissario«, sagte Pucetti. »Ich wollte schon gestern mit Ihnen sprechen, aber Sie waren nicht da.«
Das klang beinahe wie ein Vorwurf. Der Commissario, der so etwas von Pucetti überhaupt nicht gewohnt war, ärgerte sich, daß der junge Beamte sich ihm gegenüber einen solchen Ton herausnahm. Doch schon im nächsten Moment war er versucht, Pucetti seine Taktik zu erklären. Er hatte sich entschieden, auf Zeit zu spielen: Wenn sich der Eindruck durchsetzte, die Polizei habe Ernesto Moros Tod als Selbstmord eingestuft, dann fänden sich vielleicht mehr Zeugen bereit, offen über den Jungen zu reden. Aber nein, er brauchte sich doch vor diesem Grünschnabel nicht zu rechtfertigen! Brunetti schwieg ungewöhnlich lange, dann fragte er knapp: »Und? Was ist mit ihm?«
»Erinnern Sie sich noch an den Morgen, als wir in San Martino waren und die Kadetten vernommen haben?« fragte Pucetti, worauf Brunetti am liebsten zurückgefragt hätte, ob der Jüngere wohl annehme, er sei schon so alt, daß man seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen müsse. Doch er begnügte sich mit einem lapidaren: »Ja.«
»Es ist schon sehr merkwürdig, Commissario. Bei der nächsten Befragung taten die Kadetten so, als wüßten sie kaum mehr, daß Moro mit ihnen auf derselben Schule gewesen war. Die meisten sagten, sie hätten ihn nicht näher gekannt. Ich habe auch mit Pellegrini geredet, das ist der Junge, der ihn gefunden hat. Aber der weiß wirklich nichts. Er war in der fraglichen Nacht betrunken und ist nach eigener Aussage gegen Mitternacht nach Hause gekommen und gleich zu Bett gegangen.« Noch bevor Brunetti einhaken konnte, ergänzte Pucetti: »Er war auf einer Party im Haus eines Freundes, in Dorsoduro. Natürlich habe ich ihn gefragt, wie er denn so spät noch hereingekommen ist, und er sagte, er habe einen Schlüssel zum
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