Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
portone. Zwanzig Euro hat er dem portiere dafür bezahlt, und so wie er das erzählte, hatte ich den Eindruck, daß sich dort jeder einen Nachschlüssel kaufen kann.« Pucetti machte eine Pause, für den Fall, daß der Commissario etwas fragen wollte, doch als Brunetti schwieg, fuhr er fort: »Ich habe mich bei seinem Zimmerkameraden erkundigt, und der bestätigt Pellegrinis Angaben. Angeblich ist er wach geworden, als Pellegrini in der Nacht zurückkam. Und Pellegrini gibt an, er sei morgens gegen sechs Uhr aufgestanden, weil er schrecklichen Durst hatte, und als er in den Waschraum kam, da hat er Moro gefunden.«
»Aber es war nicht Pellegrini, der angerufen hat, oder?«
»Sie meinen bei uns, Commissario?«
»Ja.«
»Nein, das war einer der Hausmeister. Der Mann sagt, er habe gerade erst seinen Dienst angetreten, als er verdächtige Geräusche aus dem Waschraum hörte. Und als er nachschauen ging und sah, was passiert war, da hat er uns gleich verständigt.«
»Über eine Stunde nachdem Pellegrini die Leiche entdeckte«, sinnierte Brunetti laut.
Als Pucetti darauf nichts erwiderte, sagte er: »Und sonst? Nur weiter. Was haben die Kadetten sonst noch über ihren toten Mitschüler zu erzählen?«
»Steht alles hier drin, Commissario.« Pucetti legte einen Ordner auf Brunettis Tisch und hielt kurz inne, als gelte es, die nächsten Worte besonders sorgfältig abzuwägen. »Ich weiß, das klingt unglaublich, Signore, aber den meisten schien es gar nicht nahezugehen. Sie reagierten ganz anders als unsereins, wenn einem Bekannten oder einem Kollegen so etwas Furchtbares zugestoßen wäre.« Pucetti dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: »Es war geradezu unheimlich. Sie wohnen doch alle unter einem Dach, haben zusammen Unterricht - wie können sie ihn da nicht gekannt haben?« Pucetti, der vor Erregung laut geworden war, dämpfte seine Stimme wieder. »Immerhin, bei einem hatte ich Glück. Der erzählte mir, daß er mit Moro in einer Klasse war und daß sie kürzlich einen Abend und den ganzen nächsten Tag zusammen für eine Prüfung gelernt hätten.«
»Und wann war diese Prüfung?«
»Am Tag danach.«
»Wonach? Der Nacht, in der er starb?«
»Ja, Commissario.«
Brunetti wußte sofort, was das zu bedeuten hatte, aber er fragte Pucetti: »Was schließen Sie daraus?«
Der junge Beamte war offenbar auf diese Frage vorbereitet, denn er antwortete ohne Zögern. »Also ich denke, wenn jemand in so einer Situation an Selbstmord denkt, dann wartet er zumindest bis nach der Prüfung, um zu sehen, wie schlecht er abgeschnitten hat, und dann, vielleicht ... So würde ich es jedenfalls machen«, erklärte Pucetti und setzte rasch hinzu: »Nur daß ich mir wegen einer dummen Prüfung nicht das Leben nehmen würde.«
»Was wäre denn für Sie ein Grund, sich umzubringen?« fragte Brunetti.
Wie eine nachdenkliche Eule beäugte Pucetti seinen Chef. »Also ich kann mir überhaupt keinen vorstellen, Commissario. Und Sie?«
Brunetti schüttelte den Kopf. »Nein, vorstellen kann ich's mir auch nicht. Aber so was weiß man wohl nie vorher.« Er hatte Freunde, die sich durch Streß, mit Zigaretten oder Alkohol umbrachten, und einige dieser Freunde hatten Kinder, die es mit Drogen taten, trotzdem fiel ihm niemand ein, zumindest nicht auf Anhieb, dem er zugetraut hätte, Hand an sich zu legen. Aber vielleicht traf einen die Nachricht von einem Suizid ja auch deshalb immer so besonders schwer, weil der Selbstmörder immer einer war, von dem man es am wenigsten erwartet hätte.
So vertieft war Brunetti in seine Betrachtungen, daß er von dem, was Pucetti inzwischen vorgetragen hatte, nur noch die letzten Worte mitbekam: »... wollte diesen Winter zum Skilaufen.«
»Wer? Ernesto Moro?« fragte Brunetti, um den Anschluß zu finden.
»Ja, Commissario. Und der andere Junge meinte, Moro habe sich sehr darauf gefreut, denn er sei ein begeisterter Skifahrer gewesen.« Pucetti wartete, ob der Chef etwas dazu sagen würde, und als Brunetti schwieg, fuhr er fort: »Er war ganz aufgelöst, Commissario.«
»Wer? Dieser andere Junge?«
»Ja.«
»Und warum?«
Pucetti starrte ihn an, fassungslos, daß der Chef nicht von selber darauf kam. »Weil ... Also wenn Moro sich nicht umgebracht hat, dann ist er ermordet worden.«
Der zufriedene Gesichtsausdruck, mit dem Brunetti seine Erklärung entgegennahm, beschämte Pucetti, legte er doch den Verdacht nahe, daß der Chef sehr wohl von selber draufgekommen war.
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