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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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seiner Familie Brunetti ungeahnten Auftrieb gegeben. Insgeheim verglich er sein Wohlgefühl in dieser Situation bisweilen mit dem eines Tieres, das nach anstrengender Jagd in den sicheren Bau zurückkehrt und sich, von seinen Jungen gewärmt, genüßlich über die frisch erlegte Beute hermacht. Auch er tankte zu Hause seelisch auf und kehrte anschließend gestärkt und jagdhungrig an seine Arbeit zurück.
    Er vergaß die animalischen Vergleiche, sobald er Signorina Elettras Büro betrat und sie ganz entspannt, das Kinn lässig in die Hand gestützt, an ihrem Schreibtisch sitzen sah, den Kopf über irgendwelche Papiere gebeugt. »Ich störe hoffentlich nicht, oder?« fragte er, als er auf dem Deckblatt das Siegel des Innenministeriums erkannte und darunter den roten Stempel, der das Dokument als geheime Verschlußsache auswies.
    »Nein, ganz und gar nicht, Commissario«, sagte sie und schob die Papiere so beiläufig in den dazugehörigen Ordner, daß Brunetti unwillkürlich neugierig wurde.
    »Könnten Sie etwas für mich nachsehen?« fragte er und schaute ihr dabei fest in die Augen, um nur ja nicht nach dem Aufkleber mit dem Betreff zu schielen.
    »Aber gern, Commissario.« Signorina Elettra verstaute den Ordner in einer Schublade und nahm einen Notizblock zur Hand. »Worum geht's?« fragte sie mit gezücktem Stift und strahlendem Lächeln.
    »Ich wüßte gern, ob in der Akte der Scuola San Martino etwas über eine Vergewaltigung steht.«
    Klappernd fiel ihr der Stift aus der Hand, das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, ihr Körper verkrampfte sich und prallte in jähem Erschrecken vor ihm zurück.
    »Ist Ihnen nicht gut, Signorina?« fragte er besorgt.
    Sie sah hinunter auf den Stift, nahm ihn und schraubte umständlich die Kappe darauf, nur um sie gleich wieder abzunehmen; dann endlich hob sie den Kopf und lächelte ihn an. »Doch, doch, Signore.« Sie legte sich den Block zurecht und hielt den Stift schreibbereit. »Wie lautet der Name des Opfers, Commissario? Und wann ist es passiert?«
    »Das weiß ich eben nicht«, versetzte Brunetti. »Das heißt, ich bin nicht einmal sicher, ob es überhaupt passiert ist. Aber wenn, dann ist es ungefähr acht Jahre her. Es muß zu der Zeit gewesen sein, als ich auf dem Polizeiseminar in London war. Ursprünglich war aus San Martino eine Vergewaltigung gemeldet worden, ich glaube, es war sogar von mehr als einem Täter die Rede. Aber dann wurde keine Anzeige erstattet, und der Fall verschwand in der Versenkung.«
    »Und wonach soll ich jetzt suchen, Signore?«
    »So genau weiß ich das selber nicht«, antwortete Brunetti. »Nach irgendeinem Indiz für das, was damals vorgefallen sein mag, wer das Mädchen war, warum der Fall niedergeschlagen wurde. Was immer Sie herausfinden können.«
    Signorina Elettra brauchte offenbar ziemlich lange, um sich das alles aufzuschreiben, aber er wartete geduldig, bis sie fertig war. Den Stift noch in der Hand, fragte sie: »Wenn kein Strafantrag gestellt wurde, dann ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß wir hier im Präsidium eine Akte haben, oder?«
    »Nein, aber vielleicht existiert noch ein Protokoll von der ersten Anzeige.«
    »Und wenn nicht?«
    Brunetti wunderte sich, wieso Signorina Elettra auf einmal so zögerlich an eine Recherche heranging. »Dann könnten Sie's vielleicht bei der Presse versuchen. Das heißt, sobald Sie die Daten abgeklärt haben.«
    »Ich werde in Ihrer Personalakte nachsehen, wann Sie in London waren, Commissario«, sagte sie, von ihrem Notizblock aufblickend, und schenkte ihm ein betörendes Lächeln.
    »Ja, ja, tun Sie das«, sagte er und setzte matt hinzu: »Ich bin dann in meinem Büro.«
    Während er nach oben ging, überdachte Brunetti noch einmal Paolas harsche Kritik am Militär. Wenn er die nicht uneingeschränkt teilte, dann lag das natürlich vor allem an seinen Erfahrungen beim Wehrdienst und an den liebgewordenen Erinnerungen aus dieser Zeit. Vor allem die bedingungslose Kameradschaft war ein erhebendes Gefühl gewesen, auch wenn sich dahinter vielleicht nicht mehr verbarg als der Instinkt des Rudels, das, stolz um seine Beute geschart, in Jägerlatein schwelgt, während dicke Klumpen Fett zischend in die Flammen tropfen. Und doch: Falls er seiner Erinnerung trauen durfte, dann hatte seine Treue stets nur einer Handvoll persönlicher Freunde gegolten und keinem abstrakten Ideal wie Regiment oder Vaterland. In seinen Geschichtsbüchern hatte Brunetti immer wieder von unerschrockenen Soldaten

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