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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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gehörig abstumpften: Vor ihm lag der Palazzo Ducale, überragt von den gleißenden Kuppeln der Basilica di San Marco, aber sein Auge glitt so gelassen darüber hin, als wäre es nur der bemalte Prospekt für eine schale Provinzaufführung des Othello. Wie hatte es bloß so weit kommen können mit ihm, daß er im Angesicht solch erhabener Pracht vollkommen unberührt blieb? Begleitet vom monotonen Knarzen der Rudergabel, spann er seinen Gedankengang fort und fand es genauso unverständlich, wie er heutzutage Paola bei Tisch gegenübersitzen konnte, ohne daß es ihn danach verlangte, ihre Brüste zu liebkosen; oder wie er es fertigbrachte, seinen Kindern zuzusehen, wenn sie sich nebeneinander auf dem Sofa in irgendeine alberne Fernsehsendung vertieften, ohne daß sich ihm die Eingeweide zusammenzogen aus Angst vor den mannigfachen Gefahren, die im Leben auf sie lauerten.
    Die Gondel machte am Anleger fest, und als der Commissario von Bord ging, ermahnte er sich, seine törichten Beklemmungen auf dem Boot zurückzulassen. Er wußte aus Erfahrung, daß seine Begeisterungsfähigkeit nicht unwiederbringlich verloren war, sondern daß sie zurückkehren und ihm all das Schöne, das ihn auf Schritt und Tritt umgab, fast schmerzhaft bewußt machen würde.
    Vor Jahren hatte eine schöne Frau aus seinem Bekanntenkreis ihn davon überzeugen wollen, daß ihre Schönheit in gewisser Weise ein Fluch sei, weil die Menschen nämlich nur Augen dafür hätten und all ihre anderen Vorzüge einfach nicht zur Kenntnis nähmen. Er hatte das damals für koketten Komplimentefang gehalten und war galant darauf eingegangen, aber jetzt verstand er vielleicht, was sie meinte, zumindest wenn er ihren Vergleich auf die Stadt übertrug: Niemand sorgte sich ernsthaft um deren weiteres Schicksal - wie sonst sollte man sich die ständigen Wechsel in der Stadtspitze erklären? -, wenn nur alle aus ihrer Schönheit Profit schlagen und sich in ihrem Abglanz sonnen konnten, solange es sie noch gab.
    In der Questura ging er als erstes zu Signorina Elettra, die gerade den Gazzettino las. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln und deutete auf den Leitartikel. »Der designierte US-Präsident will anscheinend alle Beschränkungen für den Verbrauch fossiler Brennstoffe aufheben«, sagte sie und las ihm die Schlagzeile vor: »BUSH BRÜSKIERT UMWELTSCHÜTZER«.
    »Das paßt zu ihm«, sagte Brunetti, der sich auf dieses Thema lieber nicht einlassen wollte. Im stillen fragte er sich, ob die Signorina sich wohl von Vianello, einem leidenschaftlichen Umweltschützer, hatte bekehren lassen. Signorina Elettra blickte nur kurz zu ihm auf, dann war sie schon wieder bei ihrer Zeitung. »Und dann noch das: VENEDIG - STADT OHNE ZUKUNFT«.
    »Wie bitte?« fragte Brunetti bestürzt und ohne eine Ahnung, worauf sich diese alarmierende Schlagzeile beziehen mochte.
    »Na ja, wenn die Erderwärmung weiter voranschreitet, dann schmelzen die Polkappen, der Meeresspiegel steigt - und das wäre dann das Ende von Venedig«, erklärte Signorina Elettra und klang dabei erstaunlich gefaßt.
    »Und Bangladesch müßte auch dran glauben«, ergänzte Brunetti.
    »Ja, sicher. Ob Herr Bush diese Auswirkungen bedacht hat?«
    »Ich glaube, das übersteigt seine Fähigkeiten.« Brunetti, der es in der Regel vermied, mit Kollegen und Mitarbeitern über Politik zu diskutieren, war sich nicht sicher, ob Auslandspolitik auch unter dieses Tabu fiel.
    »Da haben Sie wahrscheinlich recht. Außerdem werden die Flüchtlinge sowieso alle bei uns landen und nicht drüben in den Staaten.«
    »Was denn für Flüchtlinge?« fragte Brunetti, unsicher, wohin dieses Gespräch noch führen sollte.
    »Na, die aus Bangladesch. Wenn das Land überflutet wird und eines Tages für immer unter Wasser steht, dann werden die Bewohner ja wohl nicht dort bleiben und brav ertrinken, nur damit sie anderswo niemandem zur Last fallen. Also müssen sie irgendwohin auswandern, und da der Osten ihnen kaum Asyl gewähren wird, werden sie zu uns kommen.«
    »Ist Ihre Geographie nicht ein bißchen abenteuerlich, Signorina?«
    »Ich meine doch nicht, daß die Bangladeschis auf direktem Wege zu uns kommen. Aber die Völker, die sie verdrängen, werden ihrerseits westwärts ziehen und wiederum andere in die Immigration nötigen, und die letzten in der Kette, die landen dann bei uns.« Verwundert über seine langsame Auffassungsgabe, blickte sie zu ihm hoch. »Sie haben doch Geschichte studiert, Signore, nicht wahr?« Und als er nickte,

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