Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Discmen wahllos und kunterbunt in allen Zimmern verstreut. Alles Zureden, Bitten, Drohen war machtlos gegen diesen offenbar artbedingten Drang menschlicher Brut, ihr Nest zuzumüllen. Ein engherziger Charakter hätte das womöglich als Plage empfunden: Brunetti glaubte, die Natur habe es so gefügt, damit die Eltern sich beizeiten in Geduld übten, um gewappnet zu sein, wenn das Chaos, das heute in den Zimmern herrschte, auf Gefühls- und Hormonhaushalt übergreifen würde.
»Trotzdem hätte ich es gemerkt, wenn ein Kind im Haus gewesen wäre«, beharrte er.
»Vielleicht haben die Moros sie ja zu Verwandten gegeben«, meinte Signorina Elettra.
»Ja, mag sein«, stimmte Brunetti zu, obwohl ihr Vorschlag ihn nicht überzeugte. Wann immer seine Kinder zu Besuch bei den Großeltern oder anderen Verwandten weilten, blieben daheim immer noch genügend unübersehbare Spuren zurück. Auf einmal hatte er eine Vorstellung davon, was es für die Moros bedeutet haben mußte, die Erinnerung an Ernesto aus ihren Wohnungen zu entfernen. Aber selbst wenn sie das geschafft hatten, war die Gefahr noch lange nicht gebannt: Eine einzelne Socke, die aus dem hintersten Winkel einer Kommode zum Vorschein kam, genügte, um das Herz einer Mutter aufs neue zu brechen; eine CD von den Spice Girls, die versehentlich in die Hülle von Vivaldis Flötensonaten geraten war, konnte alle mühsam errungene Fassung im Nu zerstören. Es würde Monate, vielleicht Jahre dauern, bevor die Wohnung aufhörte, ein Minenfeld zu sein; bis den Eltern nicht jedesmal, wenn sie einen Schrank oder eine Schublade öffneten, die Angst im Nacken saß.
Brunetti wurde in seinen düsteren Grübeleien unterbrochen, als Signorina Elettra vortrat und ihm den Ordner auf den Schreibtisch legte.
»Vielen Dank«, sagte er. »Ich hätte da noch ein paar Dinge, die ich Sie bitten wollte, für mich zu recherchieren.«
Damit schob er ihr seine Liste zu und erläuterte sie Punkt für Punkt.
»Versuchen Sie herauszufinden, wo das Mädchen zur Schule geht. Wenn sie bei ihrem Vater oder ihrer Mutter wohnt oder gewohnt hat, dann muß sie in einer venezianischen Schule gemeldet sein. Dann die Großeltern: Es wäre gut, wenn wir die ausfindig machen könnten. Moros Cousine - leider habe ich ihre Adresse nicht - könnte da vielleicht weiterhelfen.« Dann fiel ihm noch die befreundete Familie in Siena ein, und er beauftragte Signorina Elettra, sich bei der dortigen Polizei zu erkundigen, ob das Kind vielleicht bei ihnen lebe. »Und anschließend holen Sie bitte auch Erkundigungen über Moros Frau ein. Befragen Sie jeden: Freunde, Verwandte, Kollegen«, schloß er.
Sie sah ihn prüfend an. »Sie werden nicht lockerlassen, Commissario, wie?«
Er stemmte sich mit den Armen hoch, kam aber noch nicht zum Stehen. »Ich habe ein ungutes Gefühl bei dem Fall, und was ich bisher gehört habe, gefällt mir ganz und gar nicht. Keiner hat mir die Wahrheit gesagt, ohne daß ich herausgekriegt hätte, warum die Leute lügen.«
»Und was folgt daraus?«
Brunetti lächelte und formulierte es schonend: »Im Moment nichts weiter als meine inständige Bitte an Sie, mir Informationen zu all den Punkten zu beschaffen, die ich Ihnen notiert habe.«
»Und dann?« fragte die Signorina, die keinen Augenblick daran zweifelte, daß ihr das gelingen würde.
»Dann können wir vielleicht einen negativen Beweis führen.«
»Nämlich welchen?«
»Daß Ernesto Moro sich nicht umgebracht hat.«
16
B evor der Commissario die Questura verließ, versuchte er ein letztes Mal, Signora Moro zu erreichen. Fast fühlte er sich schon wie ein aufdringlicher Verehrer, der um so hartnäckiger wird, je länger die Angebetete sich ihm entzieht. Als er wieder keine Verbindung bekam und überlegte, ob er womöglich einen gemeinsamen Freund übersehen hatte, der ein gutes Wort für ihn einlegen könnte, dämmerte ihm, daß er unversehens auf eine Taktik aus Zeiten verfallen war, da seine Versuche, mit Frauen in Kontakt zu treten, noch ganz andere Motive hatten.
Diese verstörende Parallele beschäftigte ihn, während er auf die Unterführung am Campo San Bartolomeo zuschritt und es vor ihm plötzlich dunkel wurde. Immer noch nicht ganz in der Gegenwart angekommen, blickte er auf und sah vier San-Martino-Kadetten untergehakt und in geschlossener Formation wie zur Parade vom campo her in die calle einschwenken. Von den wehenden Schößen der langen dunklen Paletots ihrer Winteruniform flankiert, nahmen sie mühelos die ganze
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