Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
fuhr sie fort: »Dann wissen Sie doch, daß es darauf hinausläuft.«
»Mag sein«, antwortete Brunetti, hörbar skeptisch.
»Wir werden ja sehen«, sagte sie nachsichtig und faltete die Zeitung zusammen. »Was kann ich für Sie tun, Signore?«
»Also, ich habe heute morgen mit dem Vice-Questore gesprochen, und wie es scheint, will er sich im Fall Moro nun doch nicht allein auf Tenente Scarpas Selbstmordtheorie verlassen.«
»Er fürchtet wohl einen zweiten Moro-Report?« Signorina Elettra hatte Patta auf Anhieb durchschaut und in Worte gefaßt, was der Vice-Questore in dieser Deutlichkeit sicher nicht zugegeben hätte, »Höchstwahrscheinlich. Auf jeden Fall will er auf Nummer Sicher gehen und alle anderen Möglichkeiten ausschließen, bevor er die Ermittlungen einstellt.«
»Da kommt ja nur eine in Frage, oder?«
»Ja.«
»Und was ist Ihre Meinung?« Sie schob die Zeitung beiseite und beugte sich so eifrig vor, daß ihre Körpersprache die Neugier verriet, die ihrer Stimme nicht anzumerken war.
»Ich kann nicht glauben, daß er sich umgebracht hat.«
»Ich finde es auch unvorstellbar, daß ein so junger Mensch einfach sein Leben wegwerfen, seine Familie und alles hinter sich lassen würde.«
»Kinder denken nicht unbedingt an die Gefühle ihrer Eltern, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben«, wandte Brunetti ein, ohne selbst zu wissen, warum. Vielleicht nur, um die Argumente vorwegzunehmen, die man ihm an höherer Stelle entgegenhalten würde.
»Das weiß ich auch, aber Moro hatte ja noch eine kleine Schwester. Man sollte meinen, daß er wenigstens auf die Rücksicht genommen hätte. Doch wer weiß, vielleicht haben Sie recht.«
»Diese Schwester - wie alt ist sie eigentlich?« fragte Brunetti, der sich nicht erklären konnte, wieso beide Eltern so wenig Interesse an ihrem zweiten Kind bekundeten.
»Sie kam in einem der Artikel über die Familie vor«, antwortete Signorina Elettra. »Oder vielleicht hat auch ein Bekannter sie erwähnt. Im Moment sind die Moros ja in aller Munde.« Sie schloß die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, neigte den Kopf zur Seite, und Brunetti stellte sich vor, wie sie durch die Datenbanken in ihrem Kopf scrollte. Endlich sagte sie: »Nein, ich muß es doch irgendwo gelesen haben, denn mir fehlt jeder gefühlsmäßige Bezug, und den hätte ich, wenn jemand mir von dem Kind erzählt hätte.«
»Haben Sie alles Pressematerial aufgehoben?«
»Ja, sämtliche Zeitungsausschnitte und die Magazinberichte sind in dem Ordner über den Moro-Report.« Doch bevor Brunetti sie um Einsicht bitten konnte, sagte sie:
»Lassen Sie mich das machen. Vielleicht erkenne ich ja den Artikel wieder, wenn ich ihn sehe oder zu lesen anfange.«
Sie sah auf die Uhr. »Geben Sie mir eine Viertelstunde, dann haben Sie die Information.«
Brunetti bedankte sich und ging in sein Büro, um dort auf Signorina Elettra zu warten. Wieder wählte er Signora Moros Nummer, doch es ging immer noch niemand ran. Warum hatte sie ihre Tochter mit keinem Wort erwähnt, und warum fand sich in beiden Wohnungen keine Spur von dem Kind? Der Commissario stellte eine Liste mit all den Ungereimtheiten zusammen, denen Signorina Elettra nachgehen sollte, doch noch bevor er damit fertig war, kam sie mit einem Ordner in der Hand herein. »Hier, ich hab's gefunden, Signore«, sagte sie. »Die Tochter heißt Valentina. Sie ist neun.«
»Steht auch drin, bei welchem Elternteil sie lebt?«
»Leider nicht, nein. In einem Artikel über Moro, der vor sechs Jahren erschienen ist, heißt es, er habe einen Sohn, Ernesto, elf, und die Tochter Valentina, drei Jahre alt. Ansonsten wird das Mädchen nur noch in dem Bericht in La Nuova erwähnt.«
»Als ich bei den Eltern war, habe ich nirgends eine Spur von dem Kind gesehen.«
»Haben Sie denn etwas gesagt?«
»Über das Mädchen?«
»Nein, ich meine, haben Sie irgendeine Bemerkung gemacht, die der Mutter hätte Anlaß geben können, ihre Tochter zu erwähnen?«
Brunetti versuchte sich das Gespräch mit Signora Moro ins Gedächtnis zu rufen. »Nein, nicht daß ich wüßte.«
»Na, dann ist es doch verständlich, daß sie nicht von allein auf sie zu sprechen kam, oder?«
Seit nunmehr fast zwanzig Jahren teilte Brunetti sein Zuhause mit erst einem Kind und dann mit zweien, und seither hatte es wohl keinen Tag gegeben, an dem sie in der Wohnung nicht ihre Spuren hinterlassen hätten: Ständig waren Spielzeug, Kleidungsstücke, Schuhe, Schals, Bücher, Papiere,
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