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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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angestellt. Es war also durchaus denkbar, daß Signora Moro nach der Beerdigung ihres Sohnes der Stadt, ja dem Land den Rücken gekehrt hatte, um alles hinter sich zurückzulassen - außer ihrer Mutterschaft.
    Da Brunetti wußte, daß solche Spekulationen zu nichts führten, vertiefte er sich ergeben wieder in den Papierkram.
    Der Mann, der den Commissario um vier Uhr nachmittags einließ, hätte gut und gern der ältere Bruder Moros sein können, vorausgesetzt, dieser Bruder litte an Auszehrung. Die schlimmsten Symptome fanden sich in den Augen, über deren Iris wie ein dünner Schleier eine trübe Flüssigkeit lag, während das Weiße jene gelbliche Färbung angenommen hatte, die oft bei betagten Menschen auftritt. Unter beiden Augen lagerten dunkle Schatten; die edel geformte Nase war zum fleischlosen Höcker geworden; der vormals kräftige hohe Hals schien geschrumpft, und unter der schlaffen Haut zeichneten sich die Sehnenbänder ab, die allein ihn noch aufrecht hielten. Brunetti schlug die Augen nieder, um sich den Schock über diese drastische Verwandlung nicht anmerken zu lassen. Doch als er sah, wie jämmerlich dem Doktor die Hosenaufschläge über die Absätze bis auf den Boden schleiften, hob er entschlossen den Kopf und schaute Moro offen an. Der aber wandte sich ab und ging voraus ins Wohnzimmer.
    »Also, Commissario? Was haben Sie mir zu sagen?« fragte Moro, als sie einander gegenübersaßen. Seine Stimme hatte nichts von ihrer untadeligen Höflichkeit eingebüßt.
    Entweder war seine Cousine oft in der Wohnung, oder jemand anders versah den Haushalt. Jedenfalls glänzte das Parkett, die Läufer darauf waren geometrisch ausgerichtet, und in drei Murano-Vasen prangten üppige Blumenarrangements. Den kultivierten Lebensstandard der Familie hatte der Tod nicht angegriffen; wenngleich Moro ebensogut im Kassenraum einer Bank hätte leben können, so wenig wie er auf seine Umgebung achtete.
    »Ich denke, Sie sind nun über die Lüge hinaus, Dottore«, begann Brunetti unvermittelt.
    Moro machte nicht den Eindruck, als ob er diesen Einstieg auch nur im geringsten befremdlich fände. »Das kann man so sagen«, antwortete er nur.
    »Ich habe sehr viel nachgedacht über unser letztes Gespräch«, sagte Brunetti in der Hoffnung, eine Brücke zwischen sich und dem Mann auf der anderen Seite des Tisches zu schlagen.
    »Und ich erinnere mich schon nicht mehr daran«, versetzte Moro, doch es klang weder unwirsch, noch lächelte er dabei.
    »Ich hatte versucht, mit Ihnen über Ihren Sohn zu reden.«
    »Das ist verständlich, Commissario, nachdem er gerade gestorben war und Sie ja wohl die Ermittlungen zu seinem Tod leiteten.«
    Brunetti horchte vergebens auf einen bitteren oder zornigen Unterton. »Auch über Ihren Sohn habe ich sehr viel nachgedacht«, sagte er.
    »Und ich denke an nichts anderes mehr«, erwiderte Moro kühl.
    »Gehören zu Ihren Gedanken an ihn auch solche, die Sie mir anvertrauen können?« fragte Brunetti und fügte einschränkend hinzu: »Oder anvertrauen werden?«
    »Was interessieren Sie meine Gedanken, Commissario?«
    Während Moro das sagte, fiel Brunetti auf, daß Daumen und Mittelfinger seiner rechten Hand unaufhörlich aneinanderrieben, als ob ein unsichtbarer Gegenstand zwischen ihnen hin und her rollte.
    »Wie ich schon sagte, Dottore, ich meine, Sie sind jetzt über die Lüge hinaus, und darum gestehe ich Ihnen freimütig: Ich glaube nicht, daß Ihr Sohn sich das Leben genommen hat.«
    Moros Blick glitt für einen Moment ins Leere, dann fand er zu Brunetti zurück. »Lügen sind nicht das einzige, worüber ich hinaus bin, Commissario.«
    »Was meinen Sie damit?« erkundigte sich Brunetti zuvorkommend.
    »Daß ich kaum noch Interesse an der Zukunft habe.«
    »Ihrer eigenen?«
    »Der meinen oder der irgendeines anderen.«
    »Und wie steht es mit Ihrer Frau?« Eine Frage, für die Brunetti sich umgehend schämte.
    Moros Lider zuckten zweimal, dann sagte er: »Wir leben getrennt, meine Frau und ich.«
    »Und was ist mit Ihrer Tochter?« sagte Brunetti, der sich erinnerte, daß in einem der Artikel über Moro von einer Tochter die Rede gewesen war.
    »Das Sorgerecht wurde der Mutter zugesprochen«, versetzte Moro scheinbar gleichgültig.
    Brunetti wollte einwenden, daß Moro trotzdem noch der Vater sei, aber er brachte es nicht übers Herz. Also begnügte er sich mit der Feststellung: »So eine Trennungsregelung ist ja eher ein juristischer Tatbestand.«
    Moro gab erst lange keine Antwort.

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