Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
meinem Sohn, Commissario. Von meinem Sohn Alfredo. Wir haben für ihn in Dottor Franchis Apotheke eingekauft. Aber er ist dort nicht länger Kunde, weil er nicht mehr bei mir wohnt.«
»Verstehe. Danke, Dottore. Darf ich fragen, warum Sie mit Dottor Franchi über Ihren Sohn sprechen wollten?«
»Ich fürchte, das ist ziemlich schwer zu beantworten, Commissario.«
»Dann lassen Sie sich Zeit.«
»Ja, ja danke. Ich will's versuchen. Ich könnte damit anfangen, daß ich seit neun Jahren im Ospedale Civile arbeite. In der Pädiatrie. Aber warum erzähle ich Ihnen das? Wo Sie es doch längst wissen. Vor dieser Geschichte mit der Mutter meines Freundes waren mir schon zweimal Gerüchte über Dottor Franchi zu Ohren gekommen. Daß er gezielt Informationen streute, die eigentlich vertraulich waren. Dinge, die er aufgrund seines Berufes in Erfahrung gebracht hatte und die bestimmte Krankheiten, Gebrechen oder chronische Leiden seiner Kunden betrafen. Und die er auf nie geklärtem Wege - und ich muß hinzufügen, daß es auch nie Beweise dafür gab - anderen Personen übermittelt haben soll.«
»Reden Sie von Erpressung, Dottore?«
»Um Gottes willen, nein! Nichts dergleichen. Dazu wäre Dottor Franchi genausowenig fähig, wie er jemandem zuviel berechnen könnte. Er ist ein Ehrenmann, verstehen Sie? Und das ist sein Problem. Er hat festgelegt, was gut und was böse ist. Und wenn jemand etwas tut, das er für sündhaft hält, glaubt er, der Betreffende müßte dafür bestraft werden. Nein, Commissario, ich kann nicht mit konkreten Beweisen aufwarten. Es handelt sich, wie gesagt, in erster Line um Andeutungen und Gerüchte: Sie wissen ja, wie die Leute reden. Ich habe eher so ein Gespür dafür entwickelt, was für ein Mensch er ist, wie er denkt und welche selbstgewählten Pflichten er erfüllen zu müssen glaubt, um die öffentliche Moral aufrechtzuerhalten. Von seinen Indiskretionen habe ich, wie gesagt, zweimal gehört, aber eben immer nur vage Vermutungen, die der eine beim anderen aufgeschnappt und weitergetragen hat und die weder bewiesen, noch widerlegt werden konnten. Aber als ich erfuhr, daß die Mutter meines Freundes, die mit Sicherheit Kundin in seiner Apotheke ist, plötzlich über die Krankengeschichte ihrer künftigen Schwiegertochter Bescheid wußte, da lag es doch auf der Hand, daß ihre Quelle nur Dottor Franchi sein konnte.«
»War Ihnen das schon zu dem fraglichen Zeitpunkt klar?«
»Welchen meinen Sie?«
»Den, als die Mutter Ihres Freundes diese Informationen erhielt.«
»Nein, da noch nicht. Erst später.«
»Und wann genau?«
»Später eben. Als ich anfing, über gewisse Dinge nachzudenken.«
»Aber Sie hatten keine Beweise? Oder hat die Mutter Ihres Freundes Ihnen etwas erzählt?«
»Nein, nein, Sie haben ganz recht, ich hatte keine Beweise.
Aber mit Verlaub, Commissario: Beweisführung fällt wohl eher in Ihr Ressort als in meins. Ich war mir sicher, und das kommt doch wohl aufs selbe hinaus.«
»Aha.«
»Sie sind nicht dieser Ansicht, Commissario?«
»Meine Meinung tut hier nichts zur Sache, Dottore. Ich habe lediglich die Aufgabe, Sie zu befragen und nach Erklärungen zu suchen.«
»Verstehe.«
»Sie waren eben im Begriff zu schildern, warum Sie mit Dottor Franchi über Ihren Sohn sprechen wollten, Dottore.«
»Ja, stimmt, nicht wahr? Ich habe wohl Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Es gibt so vieles zu bereden, und mir gehen so viele Dinge durch den Kopf.«
»Ich höre Ihnen zu.«
»Gut denn: mein Sohn. Es wäre sinnlos, Ihnen vorzuspielen, daß er tatsächlich mein Sohn, also mein leibliches Kind ist. Seine Mutter ist eine Albanerin, die ich in Cosenza kennenlernte.«
»Kennenlernte, Dottore?«
»Nun ja, mit der man mich zusammenbrachte, wenn Sie so wollen. Ein Bekannter - seinen Namen möchte ich lieber nicht nennen - wußte, daß sie schwanger war, das Kind aber nicht behalten wollte. Also hat er den Kontakt vermittelt, und ich bin auf ihre Forderungen eingegangen.«
»Finanzielle Forderungen, Dottore?«
»Natürlich. Das war das einzige, was sie interessierte. Ich sage es nicht gern, Commissario, aber sie wollte nur das Geld. Das Kind war ihr praktisch egal.«
»Das ist sehr bedauerlich.«
»Jedenfalls hat sie das Geld bekommen. Zehntausend Euro, und ich hoffe, sie bringen ihr Glück.«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Dottore.«
»Ach, was kann man ihr schon vorwerfen? Daß sie im falschen Land geboren wurde. In einen wohlhabenderen Staat flüchtete.
Weitere Kostenlose Bücher