Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
gesagt.«
Nach einer weiteren Pause ergänzte der Capitano: »Ich glaube, das ist eine Frage, die Sie mit Dottor Pedrolli besprechen sollten.«
Jemand, der rücksichtsloser oder rachsüchtiger gewesen wäre als Brunetti, hätte Marvilli jetzt daran erinnert, daß und warum man mit Pedrolli derzeit nichts besprechen konnte. Statt dessen überraschte er den Hauptmann mit der Feststellung: »Ich hätte Sie das nicht fragen dürfen.« Worauf er rasch das Thema wechselte: »Und die Kinder? Was geschieht mit denen?«
»Das gleiche wie in all diesen Fällen«, antwortete Marvilli.
»Nämlich?« fragte Brunetti.
»Sie kommen ins Waisenhaus.«
6
B runetti ließ sich weder anmerken, wie Marvillis Worte auf ihn gewirkt hatten, noch suchte er Blickkontakt zu Vianello. Er konnte nur hoffen, daß der Inspektor seinerseits Zurückhaltung üben und nichts sagen würde, was die inzwischen leidlich entspannte Gesprächsatmosphäre trüben oder gar verderben könnte.
»Und was dann?« fragte Brunetti in dienstlichem Ton. »Was geschieht mit den Kindern?«
Marvilli war sichtlich verwirrt. »Das habe ich Ihnen doch gesagt, Commissario. Wir veranlassen ihre Einlieferung in ein Waisenhaus. Was danach geschieht, ist Sache der Sozialämter und des Jugendgerichts.«
Brunetti ließ es dabei bewenden. »Verstehe. Also haben Sie die Babys jeweils ...« Er überlegte, welches Wort hier wohl angebracht wäre: Requiriert? Beschlagnahmt? Gekidnappt? »... mitgenommen und einer sozialen Einrichtung übergeben.«
»Das war unsere Pflicht«, bestätigte Marvilli knapp.
»Und Pedrolli?« wollte Brunetti wissen. »Was wird aus ihm?«
Marvilli zögerte mit der Antwort. »Das hängt vermutlich vom Ermittlungsrichter ab. Sofern Pedrolli sich kooperativ zeigt, kommt er wohl glimpflich davon.«
»Was meinen Sie mit kooperativ?« erkundigte sich Brunetti.
Marvillis beredtes Schweigen verriet, daß der Commissario sich mit dieser Frage in die Nesseln gesetzt hatte. Bevor er seinen Fehler wiedergutmachen konnte, schob Marvilli die Manschette zurück und konsultierte seine Armbanduhr. »Ich glaube, ich muß zurück ins Hauptquartier, Signori«, sagte er und zwängte sich seitwärts aus der Nische. »Darf ich die Rechnung übernehmen?«
»Danke, Capitano, aber nein, danke«, antwortete Brunetti lächelnd. »Ich möchte gern von mir sagen können, daß ich an einem Tag zwei Leben gerettet habe.«
Marvilli lachte. Er reichte Brunetti die Hand, dann beugte er sich über den Tisch und verabschiedete sich mit einem höflichen »Auf Wiedersehen, Ispettore« auch von Vianello.
Falls Brunetti die Zusage erwartet hatte, man werde die Polizei auf dem laufenden halten, begleitet von der Bitte, umgekehrt eigene Informationen an die Carabinieri weiterzuleiten, so sah er sich enttäuscht. Der Capitano dankte ihm lediglich noch einmal für den Kaffee, bevor er sich abwandte und die Bar verließ.
Brunetti betrachtete die benutzten Gedecke und zerknüllten Servietten. »Noch ein Kaffee, und ich kann zurück zur Questura fliegen.«
»Gilt auch für mich«, brummte Vianello. Dann fragte er: »Also, wo fangen wir an?«
»Mit Pedrolli, würde ich sagen. Und dann sollten wir diese Klinik in Verona ausfindig machen«, antwortete Brunetti. »Außerdem wüßte ich zu gern, wie die Carabinieri auf Pedrolli gestoßen sind.«
Vianello deutete auf den Platz, an dem Marvilli gesessen hatte. »Ja, in dem Punkt war er sehr zugeknöpft, nicht wahr?«
Beide waren um eine Erklärung verlegen und versanken in nachdenkliches Schweigen, bis Vianello wiederum das Wort ergriff. »Die Ehefrau ist wahrscheinlich noch im Krankenhaus. Möchtest du mit ihr reden?«
Brunetti nickte. Dann stand er auf und ging zum Tresen.
»Zehn Euro, Commissario«, sagte Sergio.
Brunetti zahlte und wandte sich zum Ausgang, wo Vianello bereits auf ihn wartete. Er war schon fast an der Tür, als er über die Schulter zurückrief: »Bambola?«
Sergio lächelte. »Ich habe seinen richtigen Namen auf der Arbeitserlaubnis gelesen, aber den hätte ich niemals aussprechen können. Also hat er vorgeschlagen, daß ich ihn Bambola nenne, weil das seinem richtigen Namen im Italienischen noch am nächsten kommt.«
»Arbeitserlaubnis?« fragte Brunetti.
»Für die pasticceria in Barbaria delle Tolle.« Sergio sprach den Straßennamen venezianisch aus, was nach Brunettis Erfahrung noch keinem Ortsfremden fehlerlos gelungen war. »Doch, doch, Commissario, er hat eine.«
Vianello und Brunetti verließen die Bar
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