Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
und machten sich auf den Weg zur Questura. Es war kurz vor sieben, als sie dort anlangten, und so gingen sie in den Mannschaftsraum, um sich dort in dem alten Schwarzweißfernseher die Morgennachrichten anzuschauen. Sie ließen endlose Politberichte über sich ergehen, in denen man Minister und Staatsmänner in Mikrophone sprechen sah, während ein Kommentar aus dem Off ihre angeblichen Verlautbarungen zusammenfaßte. Dann eine Autobombe. Regierungsdementis, die steigende Inflationsrate betreffend. Drei neue Heiligsprechungen.
Nach und nach gesellten sich andere Kollegen dazu. Das Programm schaltete um auf einen unscharfen Film, in dem eine blaue Carabinieri-Limousine an der Questura von Brescia vorfuhr. Dem Wagen entstieg ein Mann, der Handschellen trug und sein Gesicht hinter den erhobenen Händen verbarg. Der Off-Kommentar erklärte, den Carabinieri sei es gelungen, bei einer nächtlichen Razzia in Brescia, Verona und Venedig einen Babyhändlerring zu zerschlagen. Fünf Personen seien festgenommen und drei Kinder in staatliche Obhut verbracht worden.
»Arme Wesen«, murmelte Vianello, und es war klar, daß er die Kinder meinte.
»Aber was sollte man sonst mit ihnen machen?« fragte Brunetti.
Alvise, der unbemerkt hereingekommen war und nun ganz in ihrer Nähe stand, platzte laut dazwischen. Und auch wenn er so tat, als rede er mit dem Fernseher, war eindeutig Brunetti gemeint. »Was sonst? Sie um Gottes willen bei ihren Eltern lassen!«
»Die Eltern wollten sie aber nicht«, bemerkte Brunetti sachlich. »Daher kommt ja das ganze Elend.«
Alvise streckte die rechte Hand in die Luft. »Ich meine doch nicht die leiblichen Eltern«, krähte er, »sondern jene, die diese Kinder aufgezogen haben und die sie ...« Seine Stimme überschlug sich fast. »... Es gibt Paare, die hatten so ein Baby seit achtzehn Monaten. Das sind anderthalb Jahre! In der Zeit haben die Kleinen schon laufen und sprechen gelernt. Die kann man doch nicht einfach aus ihrer gewohnten Umgebung rausreißen und ins Waisenhaus stecken. Porco Giuda, das sind Kinder, keine Kokainlieferungen, die wir konfiszieren und in die Asservatenkammer sperren können.« Alvise schlug mit der Faust auf den Tisch und fixierte seinen Vorgesetzten mit puterrotem Gesicht. »Was ist denn das für ein Land, in dem so was passieren kann?«
Brunetti konnte dem nichts entgegenhalten. Alvises Frage war völlig berechtigt. Ja, was für ein Land?
Auf dem Bildschirm tummelten sich inzwischen Fußballspieler, die entweder streikten oder festgenommen wurden. Genau konnte Brunetti das nicht erkennen, und es war ihm auch egal; also schaltete er den Fernseher aus und verließ, gefolgt von Vianello, das Zimmer.
Auf der Treppe erklärte der Inspektor unvermittelt: »Alvise hat ganz recht.«
Und da Brunetti schwieg, fügte Vianello hinzu: »Vielleicht geschieht es zum ersten Mal seit unserer Geschichtsschreibung, daß er recht hat, aber diesmal ist es so.«
Brunetti wartete oben auf dem Treppenabsatz, und als Vianello ihn eingeholt hatte, sagte er: »Das Gesetz ist eine herzlose Bestie, Lorenzo.«
»Was soll denn das heißen?«
»Es heißt«, versetzte Brunetti, der auf der Schwelle zu seinem Büro stehengeblieben war, »daß, wenn diese Paare die Kinder behalten dürften, ein Präzedenzfall geschaffen würde. Dann könnte man Babys kaufen oder sie sich von überall her beschaffen, auf welchem Wege auch immer und egal, aus welchen Motiven, und all das wäre völlig legal.«
»Was für ein Motiv könnten Adoptiveltern haben, außer daß sie ein Kind großziehen und liebhaben wollen?« fragte Vianello aufgebracht.
Als die ersten Gerüchte über den Verkauf von Babys im Dienste des Organhandels aufkamen, hatte Brunetti sich vorgenommen, sie als moderne Legenden abzutun. Doch mit den Jahren waren die Gerüchte zahlreicher geworden und hatten sich überdies von der Dritten in die Erste Welt verlagert. Wenn sie ihm heute zu Ohren kamen, weigerte er sich zwar immer noch, daran zu glauben, aber sie verstörten ihn. Ein so kompliziertes Unterfangen wie eine Transplantation erforderte zahlreiche Mitwirkende und ein personalstarkes, straff organisiertes medizinisches Umfeld, damit ein Patient Aussicht auf Heilung hatte. Daß solche Operationen stattfanden und alle Beteiligten Stillschweigen wahrten, konnte Brunetti sich beim besten Willen nicht vorstellen. Zumindest nicht in Italien. Über die Landesgrenzen hinaus wagte er keine Prognosen mehr.
Auch wenn es über zehn Jahre her war,
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