Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
er hinzu: »Würden Sie mich benachrichtigen, wenn eine Veränderung seines Zustands eintritt?«
Bevor Damasco antworten konnte, richtete Pedrolli sich auf, packte Brunetti am Handgelenk und zog ihn mit einer Kraft, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, näher zu sich ans Bett. Er bewegte die Lippen, brachte aber keinen Ton heraus. Als Brunetti ihn nur ratlos ansah, hob Pedrolli beide Arme empor und wiegte sie schaukelnd vor der Brust.
»Alfredo?« fragte Brunetti.
Pedrolli nickte heftig.
Da tätschelte Brunetti ihm begütigend den rechten Handrücken und sagte: »Ihrem Sohn geht es gut, Dottore. Bitte machen Sie sich um ihn keine Sorgen. Es geht ihm gut.«
Pedrollis Augen weiteten sich, und Brunetti sah, wie ihm die Tränen kamen. Er tat so, als habe Damasco ihn etwas gefragt, und wandte sich dem Neurologen zu. Als er wieder zum Bett schaute, hatte Pedrolli die Augen geschlossen.
Damasco trat vor. »Wenn sich etwas Neues ergibt, rufe ich Sie an, Commissario.«
Brunetti nickte dankend, schob sich das Clipboard unter den Arm und verließ das Zimmer. Der Carabiniere vor der Tür nahm weiter keine Notiz von ihm. Sonst war niemand auf dem Flur, und auch der Empfang war nicht besetzt. Brunetti warf die Laborberichte wieder in den Papierkorb und legte das Clipboard an seinen Platz zurück. Nachdem er sich auch des Stethoskops entledigt und es in der Schublade verstaut hatte, verließ er die Station.
13
A uf dem Rückweg zur Questura ließ Brunetti sich reichlich Zeit, um über all das nachzudenken, was ihm im Kopf herumging. Über die Fragen, die er nicht gestellt hatte, und die verbleibenden Unbekannten in Pedrollis ... ja, er wußte nicht einmal, wie er dazu sagen sollte: Sein Fall? Seine Lage? Sein Dilemma oder Schlamassel?
Zu den anderen illegalen Adoptionsfällen hatten die Carabinieri bisher nichts verlauten lassen. Und solange Pedrolli sich in Schweigen hüllte, wußte Brunetti weder wie er und seine Frau noch wie die anderen Paare zu ihren Babys gekommen waren. Er hatte keine Ahnung, ob die leiblichen Mütter Italienerinnen waren, wo sie ihre Kinder zur Welt brachten, wie und wo die Übergabe vonstatten ging oder wie hoch die Kinder im Kurs standen. Diese letzte Wendung machte ihn schaudern. Aber es galt ja auch noch die amtliche Seite zu berücksichtigen: Wie viele Dokumente mußte man beibringen, um seine Vaterschaft bestätigt zu bekommen? In einer orangefarbenen Blechdose, ursprünglich gefüllt mit Weihnachtsplätzchen, verwahrten er und Paola die Geburtsurkunden der Kinder, ihre Impf- und Gesundheitspässe, Taufscheine, Kommunionsurkunden und einige Schulzeugnisse. Die Dose stand, wenn er sich recht erinnerte, auf dem obersten Bord ihres Schlafzimmerschranks, während sich die Reisepässe in einer Schublade in Paolas Arbeitszimmer befanden. Brunetti wußte nicht mehr, wie sie an die Pässe für die Kinder gekommen waren, aber bestimmt hatten sie deren Geburtsurkunden vorlegen müssen, genau wie bei der Einschulung.
In Venedig wurden alle Geburten und Todesfälle sowie Wohnungswechsel im Ufficio Anagrafe registriert. Auf seinem Weg vom Krankenhaus zur Questura beschloß Brunetti, dort vorbeizuschauen: Wenn er die bürokratischen Hürden erkunden wollte, die zu überwinden waren, um eine legale Identität zusammenzubasteln, dann erledigte er das am besten gleich!
Brunetti folgte einer langsam dahinziehenden Touristenschlange über den Ponte del Lovo und am Teatro La Fenice vorbei, doch als er am Ufficio Anagrafe anlangte, das sich in einem Labyrinth von Stadtbüros an der Calle Loredan versteckte, sah er seinen Plan durch einen denkbar banalen Grund vereitelt: Die städtischen Angestellten streikten aus Protest gegen die verschleppte Erneuerung ihrer Verträge, die schon vor siebzehn Monaten ausgelaufen waren. Brunetti überlegte, ob das Streikrecht wohl auch für die Polizei gelte, die schließlich ebenfalls der Stadt unterstand. Und da er die Frage für sich mit einem klaren Ja beantwortete, ging er zuerst auf einen Kaffee zu Rosa Salva und dann hinüber in die Buchhandlung La Tarantola, um einen Blick auf die Neuerscheinungen zu werfen. Leider fand er das Angebot wenig verlockend: Biographien über Mao, Stalin oder Lenin würden ihn gewiß zur Verzweiflung treiben. Eine Neuübersetzung von Pausanias' Beschreibung Griechenlands schied aus, weil er eine ungnädige Rezension darüber gelesen hatte. Da er es sich aber zur Regel gemacht hatte, keinen Buchladen mit leeren Händen zu verlassen,
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