Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
entschied er sich für eine 1977 in Turin erschienene und lange Zeit vergriffene Übertragung der Lettres de la Russie des Marquis de Custine von 1839. Die Neuere Geschichte gehörte zwar eigentlich nicht zu seinen Interessengebieten, aber es war der einzige Titel, der seine Neugier weckte, und außerdem war er in Eile - Streik hin oder her.
Brunetti kam sich ungemein tugendhaft vor, als er seinen Weg zur Questura fortsetzte, obwohl er doch jetzt, in Anbetracht des Streiks, hätte nach Hause gehen und sich in die Rußlandreise des Marquis de Custine vertiefen können. Statt dessen legte er das neue Buch, stolzgeschwellt ob seiner Selbstherrschung, ungeöffnet auf den Schreibtisch und nahm den Papierkram in Angriff, der sich dort angesammelt hatte. Doch so sehr er auch versuchte, sich auf Tabellen und Empfehlungen zu konzentrieren: Die ungelösten Fragen in Sachen Pedrolli ließen Brunetti nicht los. Warum war Marvilli so wenig mitteilsam gewesen? Wer hatte die Razzia der Carabinieri im Hause eines venezianischen Bürgers angeordnet? Wessen Order hatte nur Stunden nach Pedrollis Einlieferung ins Krankenhaus den Vice-Questore dorthin zitiert? Und wie hatten die Carabinieri überhaupt von Pedrollis Adoptivkind erfahren?
Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Überlegungen.
»Ja, Brunetti?«
»Kommen Sie sofort in mein Büro.« Und schon hatte Patta wieder aufgelegt.
Als Brunetti sich erhob, fiel sein Blick auf den Werbetext auf der hinteren Umschlagseite des eben gekauften Buches, »... offen zutage tretende Willkür und Machtmißbrauch ...«
»Ach, Monsieur le Marquis«, seufzte Brunetti laut, »wenn Sie wüßten.«
Unten in Pattas Vorzimmer fand sich keine Spur von Signorina Elettra. Er klopfte und betrat das Büro des Vice-Questore, ohne dessen Aufforderung abzuwarten.
Die Aktenberge, die sich vor Patta auf dem Schreibtisch türmten, erweckten das Bild eines überarbeiteten Staatsdieners. Sogar seine Sommerbräune fing an zu verblassen, was den Eindruck unermüdlicher Hingabe an seine zahlreichen Amtspflichten wirkungsvoll unterstrich.
Noch ehe Brunetti sich dem Schreibtisch nähern konnte, fragte der Vice-Questore bereits: »Was haben Sie gerade in Arbeit, Brunetti?«
»Die Gepäckdiebstähle am Flughafen und das Casinò«, antwortete Brunetti. Es klang, als informiere er seinen Hautarzt über eine berufsbedingte Art von Fußpilz.
»Das kann alles warten«, entschied Patta. Eine Einschätzung, die Brunetti voll und ganz teilte. Dann, als der Commissario unmittelbar vor ihm stand, erkundigte sich Patta vertraulich: »Ich nehme an, Sie haben von dieser Panne bei der Carabinieri-Razzia gehört?«
Es war also eine Panne? »Ja, Dottore.«
»Dachte ich mir. Aber setzen Sie sich doch, Brunetti. Es macht mich ganz nervös, wenn Sie so herumstehen.«
Brunetti nahm vor dem Schreibtisch Platz.
»Die Carabinieri haben überreagiert, und sie können von Glück sagen, wenn der Mann in der Klinik sie nicht anzeigt.« Eine Erkenntnis, die Brunetti instinktiv auf jenen respekteinflößenden Fremden zurückführte, der mit dem Vice-Questore vor Pedrollis Krankenzimmer gestanden hatte. Nach kurzem Bedenken schwächte Patta seine düstere Prognose jedoch gleich wieder ab: »Ich glaube allerdings nicht, daß er das tun wird. Den juristischen Ärger, den so was mit sich bringt, will sich doch niemand aufhalsen.« Natürlich nicht. Brunetti war versucht zu fragen, ob der weißhaarige Herr im Krankenhaus bei etwaigen juristischen Scherereien seine Hand im Spiel hätte. Doch er war vernünftig genug, sein Wissen um Pattas nächtliches Treffen für sich zu behalten, und sagte nur: »Was kann ich dabei tun, Vice-Questore?«
»Ja, also es scheint da gewisse Unklarheiten zu geben, bezüglich der Absprachen zwischen uns und den Carabinieri.« Nach dieser umständlichen Einleitung beäugte Patta sein Gegenüber, wie um zu prüfen, ob die kodierte Botschaft angekommen sei und der Empfänger sie richtig zu deuten wisse.
»Verstehe, Dottore«, sagte Brunetti. Offenbar konnten die Carabinieri nachweisen, daß sie die Polizei über die bevorstehende Razzia unterrichtet hatten. Bei der Polizei aber war diese Information offiziell nie eingegangen. Brunetti fühlte sich unwillkürlich an jene Gesetze der Logik erinnert, die er vor Jahrzehnten an der Universität so eifrig studiert hatte. Unter anderem ging es da um die Schwierigkeit - oder gar Unmöglichkeit? - einen Negativbeweis zu führen. Hier nun schwankte Patta zwischen zwei
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