Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Variationen« etwa oder »kulturell unterschiedliche Zukunftsplanung«. Doch wie man es auch formulierte: Unterm Strich blieb die Feststellung, daß sozial schwache Schichten geburtenfreudiger waren als die der besser Gestellten; so wie die Armen immer schon mehr Kinder bekommen hatten als die Reichen. In früheren Zeiten waren von den Kindern aus ärmlichen Verhältnissen viele jung gestorben, hinweggerafft von Seuchen und Hungersnöten. Heute jedoch überlebten die meisten, zumindest diejenigen, die in den westlichen Industrienationen geboren wurden oder hier eine zweite Heimat gefunden hatten.
Zur selben Zeit, wie die Kinderzahl der Immigranten in ganz Europa anstieg, litt die einheimische Bevölkerung der Gastländer unter Fortpflanzungsproblemen. Die durchschnittliche Mitteleuropäerin von heute war bei der Geburt des ersten Kindes deutlich älter als in der Generation davor. Zudem war die Zahl der Eheschließungen rückläufig. Und der dramatische Anstieg der Mietpreise trug mit dazu bei, daß junge Paare selbst dann nicht mehr ohne weiteres einen eigenen Hausstand gründen konnten, wenn beide berufstätig waren. Wer aber konnte es sich heute noch leisten, mit nur einem Verdienst ein Kind großzuziehen?
Dennoch ließ die moderne Entwicklung der Gesellschaft relativ viel Raum für Familienplanung. Abgesehen von der steten Verminderung zeugungsfähigen Spermas, die ein schier unüberwindliches Hindernis darstellte. Und die Ursache? Umweltverschmutzung? Irgendeine genetische Veränderung? Eine noch unentdeckte Krankheit? Wiederholt fand sich in den Internetbeiträgen der Hinweis auf Phthalate, Weichmacher-Chemikalien, die in allen möglichen gängigen Produkten vorhanden waren, einschließlich Deodorants und Lebensmittelverpackungen. Je höher deren Spiegel im Blut, las Brunetti weiter, desto geringer die Spermienzahl. Aber obwohl diese Substanzen übereinstimmend für den seit etwa fünfzig Jahren zu beobachtenden Spermienschwund mitverantwortlich gemacht wurden, wagte es doch keiner der Referenten, sie als direkten Verursacher zu benennen. Und was Brunetti betraf, so war er ohnehin immer davon ausgegangen, daß die steigenden ökonomischen Ansprüche sich ebenso auf die Geburtenrate auswirkten wie die Fertilitätsprobleme. Denn selbst wenn die Millionen von Spermien der Vergangenheit sich auf die Hälfte reduziert hatten, sollte auch dieses Quantum wohl noch ausreichend sein.
In einem Artikel stand, daß bei Immigranten, die einige Jahre in Europa gelebt hätten, die Spermienproduktion ebenfalls rückläufig sei. Zweifellos ein Indiz für die Glaubwürdigkeit der These, daß Natur- und Umweltverschmutzung ursächlich beteiligt waren. Hatten die Altertumsforscher nicht nachgewiesen, daß gesundheitlicher Niedergang und verminderte Fruchtbarkeit im Römischen Reich wohl auch zu Lasten der bleiernen Wasserrohre gingen? Zwar machte es jetzt keinen Unterschied mehr, aber wenigstens waren die Römer zu Lebzeiten ahnungslos gewesen, was diesen möglichen Zusammenhang betraf: Es blieb späteren Epochen vorbehalten, die mutmaßlichen Schadenserreger aufzudecken - und sich dann, ohne jede Mäßigung, fröhlich weiter an der Umwelt zu versündigen.
Brunettis historischer Exkurs fand ein jähes Ende, als Vianello sein Büro betrat. Der Inspektor lächelte triumphierend und schwenkte einen Stoß Papiere. »Mir war«, begann er, »die sogenannte Weiße-Kragen-Kriminalität eigentlich immer zuwider. Aber je mehr ich mich damit befasse, desto sympathischer wird sie mir.« Er warf die Unterlagen auf Brunettis Schreibtisch und setzte sich.
Nanu? Ob Vianello einen Karrierewechsel anpeilte? Was auch immer ihn umgestimmt haben mochte, Brunetti war überzeugt, daß Signorina Elettra dabei ihre Finger im Spiel hatte.
»›Sympathisch‹?« wiederholte er schmunzelnd und wies auf die Papiere, als wären sie der Schlüssel zu Vianellos Sinneswandel.
»Na ja, bloß insofern«, dämpfte der Inspektor Brunettis offenkundige Belustigung, »als man diese Typen nicht ewig beschatten oder stundenlang im Regen vor ihrer Tür rumlungern muß, nur um sich, wenn sie endlich zum Vorschein kommen, wieder an ihre Fersen zu heften.«
Da Brunetti schwieg, fuhr der Inspektor fort. »Früher fand ich's bloß langweilig, stundenlang rumzusitzen, Steuererklärungen und Bilanzen durchzuackern oder Kreditkartenabrechnungen und Bankbelege zu prüfen.«
Brunetti unterdrückte den Einwurf, daß die meisten dieser Fahndungsmethoden ohne richterliche
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