Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
unterrichtest, plus der Zeit, die für die Betreuung deiner Studenten draufgeht, habe ich, was unser unterschiedliches Küchenpensum betrifft, ein reines Gewissen.« Sie wollte etwas einwenden, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Und wenn du mit deinem ach so zeitaufwendigen Lektürepensum dagegenhalten willst, dann sage ich, daß du wahrscheinlich verrückt würdest, wenn du nicht deine ganze Freizeit mit Lesen verbringen könntest.« Nach einem großen Schluck Wein nahm er einen ihrer Füße in die Hand und schüttelte ihn sanft.
Sie lächelte und sagte: »Soviel zu meinem Vorstoß in Sachen legitimer Protest.«
Er schloß die Augen und lehnte den Kopf zurück.
»Also gut, einfach nur Protest«, lenkte sie ein, nachdem eine Weile verstrichen war.
Wieder einige Zeit später sagte er, immer noch mit geschlossenen Augen: »Ich war heute in dieser Klinik in Verona.«
»In der Fruchtbarkeitsklinik?«
»Ja.«
Nachdem sie lange geschwiegen hatte, schlug er die Augen auf und sah zu ihr hin. »Was ist denn los?« Er spürte instinktiv, daß sie etwas auf dem Herzen hatte.
»Mir scheint, ich kann keine Zeitung oder Illustrierte aufschlagen, ohne auf einen Artikel zum Thema Überbevölkerung zu stoßen«, sagte Paola. »Sechs Milliarden, sieben, acht - schaurige Warnungen vor einer drohenden Bevölkerungsexplosion und parallel dazu einem kontinuierlich steigenden Mangel an natürlichen Ressourcen. Gleichzeitig aber gibt es Menschen, die Furchtbarkeitskliniken aufsuchen ...«
»Um die Bevölkerung zu vermehren?«
»Nein!« entgegnete sie entschieden. »Das wohl kaum. Sondern aus einem inneren Antrieb heraus.«
»Meinst du nicht eher ein Bedürfnis?« fragte er.
»Guido«, begann sie mit matter Stimme, die indes recht gekünstelt klang, »diese Definitionsversuche haben wir doch längst hinter uns. Du weißt, für mich ist ein Bedürfnis etwas so Elementares wie Essen oder Trinken, ohne das man nicht überleben kann.«
»Und ich denke eben, es gehört mehr dazu: nämlich all das, was uns über die restlichen Säugetiere erhebt.«
Paola nickte, doch dann sagte sie: »Ich glaube, ich möchte das jetzt nicht weiter verfolgen. Außerdem, selbst wenn du mich mit Logik und Vernunft aus dem Feld schlägst und gar noch mit unseren eigenen Kinder punktest - davon, daß es ein solches Bedürfnis ist, sich fortzupflanzen, wirst du mich trotzdem nicht überzeugen. Also sparen wir uns beide Zeit und Energie und lassen das Thema ruhen, einverstanden?«
Er bückte sich nach der Flasche, stellte sie jedoch, ohne nachzuschenken, auf den Tisch. »Ich war mit Signorina Elettra in Verona«, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen. »Wir gaben ein Paar, das sich verzweifelt ein Kind wünscht. Ich wollte rauskriegen, ob die Klinik in diese Adoptionsgeschäfte verwickelt ist.«
»Hat man dir geglaubt? In der Klinik?« fragte sie, während es doch für ihn in erster Linie um die Beteiligung der Villa Colonna am Adoptionshandel ging.
»Ich denke schon«, sagte er, hielt es aber für ratsam, die Gründe dafür nicht eigens darzulegen.
Paola nahm die Füße vom Sofa und richtete sich auf. Nachdem sie ihr Glas auf den Tisch gestellt hatte, wandte sie sich Brunetti zu und zupfte ein langes dunkles Haar von seiner Hemdbrust. Sie ließ es auf den Teppich fallen und erhob sich. Ohne etwas zu sagen, ging sie in die Küche, um die restlichen Vorbereitungen fürs Abendbrot zu treffen.
16
B innen kurzem verschwanden der Fall Pedrolli und in seinem Gefolge auch die illegalen Adoptionsfälle in anderen Städten aus den Nachrichten. Brunetti hingegen beschäftigte sich, wenn auch nur mehr halb offiziell, weiter damit. Vianello förderte das Protokoll des Gesprächs zutage, das Brunetti mit jener Zeugin aus dem Rialtoviertel geführt hatte. Als der Inspektor sie für eine neuerliche Befragung aufsuchte, konnte sie sich an keine weiteren Details erinnern, außer daß die Frau, die am Fenster telefoniert hatte, eine Brille trug. Die Wohnung gegenüber, in der die Schwangere die Tage vor ihrer Niederkunft verbracht hatte, gehörte einem Mann aus Turin und wurde, der Nachfrage gemäß, wochen- oder monatsweise vermietet. Für den Zeitraum, in dem die junge Frau sich dort aufgehalten hatte, fand der zuständige Makler in seinen Unterlagen zwar einen gewissen Giulio D'Alessio als Mieter verzeichnet, aber der Signore hatte bedauerlicherweise keine Adresse angegeben und die diskrete Barzahlung bevorzugt. Nein, daran, wie dieser Signor
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