Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
noch einen Schluck.
Neugierig zu erfahren, wie Paola ausgerechnet auf das Lukasevangelium kam, fragte Brunetti nach einer Weile: »Und welche Anregungen hat dir nun diese Lektüre vermittelt?«
»Ach, ich find's himmlisch, wenn du mich mit Sarkasmus zu umgarnen versuchst«, seufzte Paola und stellte ihr Glas auf den Tisch. Sie klappte das Buch zu und legte es daneben. »Also, ich habe heute mit Marina Canziani gesprochen. Wir sind uns zufällig in der Biblioteca Marciana begegnet.«
»Und?«
»Und sie hat mir von ihrer Tante erzählt, der, bei der sie aufgewachsen ist.«
»Und?«
»Ja, und diese Tante - ich glaube, sie geht auf die Neunzig zu -, ist ganz plötzlich alt geworden, alt und gebrechlich. Wie das so ist mit hochbetagten Menschen: heute noch wohlauf, und zwei Wochen später nur mehr ein greises Wrack.«
Marinas Tante - wenn er sich recht erinnerte, war ihr Name Italia, irgendwas Archaisches jedenfalls - hatte über Marinas Leben bestimmt, solange Brunetti und Paola sie kannten, und sie kannten sich schon seit Jahrzehnten. Die Tante hatte Marina aufgenommen, nachdem deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte sie rechtschaffen, aber mit äußerst strenger Hand erzogen und dafür gesorgt, daß sie eine gute Ausbildung bekam.
Doch in all den Jahren, die Marina unter ihrer Obhut verbrachte, hatte sie ihr nie auch nur die kleinste Zuneigung oder Anerkennung geschenkt. Marinas Erbe hatte sie klug verwaltet und ihre Nichte zu einer sehr reichen Frau gemacht; doch der Heirat, die Marina zu einer sehr glücklichen Frau machen sollte, hatte sie sich mit allen Mitteln widersetzt.
Paola steuerte keine weiteren Informationen bei. Brunetti dachte an Marinas Tante, nippte an seinem Wein und gestand endlich: »Ich kann die Verbindung zum Lukasevangelium nicht entdecken.«
Paola lächelte und entblößte dabei mehr Zähne, als erlaubt war. »Jetzt hat die Tante Marina angefleht, sie bei sich und ihrer Familie aufzunehmen. Sie war bereit, Miete zu zahlen und eine Betreuerin zu engagieren, die sich tagsüber und auch nachts um sie kümmern würde.«
»Und Marina?« fragte Brunetti.
»Hat ihr geantwortet, sie sei bereit, una badante zu verpflichten, die zu ihr ziehen und sie in ihrem eigenen Haus betreuen würde, oder sie in einem privaten Pflegeheim auf dem Lido unterzubringen.«
Brunetti tappte immer noch im dunkeln, was den Bezug zur Bibel betraf. »Und weiter?« forschte er.
»Nun, mir kam der Gedanke, daß Jesus mit seinem Gleichnis womöglich eine sehr vernünftige Investitionsempfehlung gegeben hat. Und daß wir es vielleicht nicht als moralischen Imperativ lesen sollten, der uns animiert, immerfort Gutes zu tun, sondern eher als eine Lektion darüber, was im anderen Fall geschieht. Wenn uns unser Tun mit gleicher Münze vergolten wird, dann ist Nächstenliebe eine lohnende Investition.«
»Und Marinas Tante hätte demnach schlecht investiert?«
»Genau.«
Er trank seinen Wein aus und beugte sich vor, um das Glas auf den Tisch zu stellen. »Bemerkenswerte Interpretation«, sagte er. »Sind das so die Themen, die euch Geisteswissenschaftler umtreiben?«
Paola griff nach ihrem Glas, trank es aus und sagte: »Sofern wir nicht gerade den Studenten unsere Überlegenheit beweisen müssen.«
»Das dürfte nicht allzu schwierig sein«, meinte Brunetti trocken. »Was gibt's übrigens nach den crespelle?«
»Coniglio in umido«, sagte sie, um dann ihrerseits eine Frage anzuschließen. »Warum gehst du eigentlich immer davon aus, daß ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen weiß, als zu kochen? Immerhin bin ich Universitätsdozentin. Vielleicht erinnerst du dich gelegentlich daran. Ich habe auch einen Beruf. Genau wie du.«
Er nahm den Ball auf und führte ihr Klagelied fort: »... und du solltest nicht von einem Ehemann zum Küchensklaven degradiert werden, der, typisch Macho, dir den ganzen Haushalt aufbürdet, während er sich darauf beschränkt, das erlegte Wildbret heimzutragen.« Sprach's, verschwand in der Küche und kam mit der Flasche Masetto Nero zurück.
Er goß ihr ein und stellte die Flasche, nachdem er auch sich nachgeschenkt hatte, neben seinem Platz ab. Dann prostete er ihr zu und trank einen Schluck. »Wirklich ein Genuß. Wieviel davon hat uns dein Vater denn geschickt?«
»Drei Kisten, und du bist meiner Frage ausgewichen.«
»Nein, bin ich nicht: Ich versuche nur herauszufinden, wie ernst ich sie nehmen soll. Gemessen an den vier Wochenstunden, die du
Weitere Kostenlose Bücher