Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
handbehauene, jahrhundertealte Pflastersteine aus Vulkangestein -, um sie zu Geld zu machen. Darum!« Er dachte schon, sie sei fertig, als Signorina Elettra noch einmal ausholte: »Sogar unter der Herrschaft Napoleons und der Österreicher - die uns doch bei Gott bis aufs Hemd ausgeplündert haben - ließ man uns wenigstens die masegni. Heute dagegen - wenn ich nur daran denke, kommen mir die Tränen.«
Was ihr, dachte Brunetti, wohl jeder aufrechte Venezianer nachfühlen konnte. In seinem Kopf rumorte es, so angestrengt überlegte er, wer diesen Coup ausgeheckt haben mochte, wer an dem Komplott hätte beteiligt sein müssen, damit es funktionierte, und die Möglichkeiten, die sich anboten, mißfielen ihm allesamt.
Wie aus heiterem Himmel entsann er sich plötzlich eines Ausspruchs, den er oft von seiner Mutter gehört hatte: Die Neapolitaner seien imstande, den Leuten im Gehen die Schuhe zu entwenden. Na, da könnten sie sich ja von den Venezianern noch eine Scheibe abschneiden, wenn einige hier so gewitzt waren, den eigenen Mitbürgern die Pflastersteine unter den Füßen wegzuklauen.
»Was nun diesen Dottor Calamandri betrifft«, fing Signorina Elettra Brunettis abschweifende Gedanken wieder ein, »so wirkt er auf mich wie ein vielbeschäftigter Arzt, der bemüht ist, seinen Patienten reinen Wein einzuschenken. Zumindest weckt er keine falschen Hoffnungen über die Chancen, die ihnen offenstehen. Und bewahrt sie vor trügerischen Illusionen.« Sie ließ ihm Zeit, das aufzunehmen, bevor sie fragte: »Und Ihr Eindruck, Commissario?«
»Ganz ähnlich. Er hätte leicht dazu raten können, daß wir die ganzen Testreihen noch einmal wiederholen. An seiner Klinik. In seinem Labor.«
»Hat er aber nicht«, ergänzte sie. »Was auf einen anständigen Charakter schließen läßt.«
»Oder einen, der anständig erscheinen will«, warf Brunetti ein.
»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund«, sagte Signorina Elettra lächelnd. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, als sie sich Mestre näherten. Zu ihrer Linken strebten eilige Passanten dem Bahnhof zu, andere kamen von dort, und bei McDonald's herrschte reger Betrieb. Die beiden musterten die Fahrgäste in einem Waggon auf dem Nachbargleis sowie die Leute auf dem Bahnsteig; dann wurden die Türen geschlossen, und ihr Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Das Gespräch plätscherte so dahin; nach ein paar Bemerkungen über Dottoressa Fontanas kühle Geschäftsmäßigkeit kamen sie überein, daß sie vorerst nichts tun könnten, als abzuwarten, ob Signor Brunini von einem Abgesandten der Villa-Colonna-Klinik kontaktiert würde. Andernfalls blieb nur die Hoffnung, Pedrolli oder dessen Frau doch noch zum Reden zu bringen, oder aber sich mit Signorina Elettras Hilfe in die laufenden Ermittlungen der Carabinieri einzuklinken.
Wenige Minuten später kamen die Schornsteine von Marghera in Sicht, und Brunetti war gespannt, was Signorina Elettra wohl heute dazu einfiele. Aber offenbar hatten die masegni ihr Entrüstungspotential aufgebraucht, denn sie blieb stumm. Kurz darauf fuhr der Zug in die Stazione Santa Lucia ein.
Als Brunetti auf dem Weg zum Ausgang zur Bahnhofsuhr hochsah, war es dreizehn Minuten nach sechs. Er würde also noch bequem das Vaporetto der Linie eins erreichen, das um sechzehn Minuten nach sechs anlegte: Wie ein Pinguinjunges, dem sich das Bild seiner Mutter unauslöschlich eingeprägt hat, so gut kannte Brunetti den Fahrplan der Linie eins, die vom Bahnhof aus im Zehn-Minuten-Takt verkehrte, beginnend jeweils sechs Minuten nach der vollen Stunde.
»Ich glaube, ich gehe zu Fuß«, sagte Signorina Elettra, während sie sich auf der Treppe einen Weg durch die Menschenmenge bahnten, die zu den Gleisen strömte. Keiner von beiden erwähnte die Möglichkeit, geschweige denn die Pflicht, jetzt noch in die Questura zurückzukehren.
Unten angekommen, hielten beide kurz ein, sie schon nach links gewandt und er zum imbarcadero auf der rechten Seite. »Ich danke Ihnen«, sagte Brunetti lächelnd.
»War mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Commissario. So ein Ausflug ist doch viel angenehmer, als den Nachmittag mit Personalhochrechnungen für den nächsten Monat zu verbringen.« Sie winkte zum Abschied und verschwand im Gewoge der Passanten, die aus dem Bahnhof drängten. Er sah ihr einen Moment nach, doch dann hörte er schon das Vaporetto, hörte es mit gedrosselten Motoren den imbarcadero ansteuern und eilte hastig zu seinem Boot, das ihn nach Hause bringen
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