Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
würde.
»Du kommst aber früh, heute«, rief Paola aus dem Wohnzimmer, als er die Wohnungstür aufsperrte. Es klang, als sei sein unverhofftes Erscheinen das Schönste, was ihr seit langem widerfahren war.
»Ich mußte für eine Befragung nach außerhalb«, erklärte er, während er sein Jackett aufhängte. »Und als ich zurückkam, war es schon so spät, daß es sich nicht gelohnt hätte, noch mal ins Büro zu gehen.« Er äußerte sich bewußt nur sehr vage über diese kleine Dienstfahrt. Falls sie nachfragte, würde er ihr davon erzählen, ansonsten aber bestand kein Grund, sie mit den Details seiner Ermittlungen zu belasten. Er lockerte seine Krawatte: Meine Güte, warum tragen wir diese Dinger überhaupt noch? Schlimmer: Warum kam er sich ohne noch immer vor wie nicht fertig angezogen?
Brunetti ging ins Wohnzimmer und fand Paola, wie erwartet, auf dem Sofa ausgestreckt, vor sich ein aufgeschlagenes Buch. Er trat zu ihr, bückte sich und drückte zärtlich einen ihrer Füße.
»Vor zwanzig Jahren hättest du dich über mich gebeugt und mir einen Kuß gegeben«, sagte sie.
»Vor zwanzig Jahren hätte mir dabei auch nicht der Rücken weh getan«, antwortete er, bevor er sich zu ihr niederbeugte und sie küßte. Als er sich wieder aufrichtete, preßte er sich mit theatralischer Geste die Hand ins Kreuz und wankte, ein gebrochener Mann, in Richtung Küche. »Nur ein Schluck Wein kann mich noch retten«, stöhnte er.
In der Küche roch es nach frisch gebackenem Teig, vermischt mit einer süßherben Duftkomposition. Mühelos und ohne Gejammer bückte er sich zum Fenster der Backofentür, hinter der er die tiefe Glasform erspähte, die Paola immer für crespelle benutzte: diesmal mit Zucchini und, wenn er sich nicht täuschte, peperoni gialli, was beide Aromen erklärte.
Er öffnete den Kühlschrank und inspizierte den Weißweinvorrat, entschied sich dann aber in Anbetracht der kühleren Witterung für einen Roten. Aus der Vitrine holte er eine Flasche mit der Aufschrift Masetto Nero, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte, und studierte ratsuchend das Etikett.
Er ging zurück bis an die Tür zum Wohnzimmer. »Was ist ein Masetto Nero, und wo haben wir ihn her?«
»Der stammt von einem Weingut namens Endrizzi. Hat uns mein Vater geschickt«, sagte sie, ohne den Blick von ihrem Buch zu nehmen.
Diese Erklärung schien Brunetti nicht ganz ausreichend, denn wenn es sich bei dem edlen Spender um Conte Orazio Falier handelte, war »geschickt« ein dehnbarer Begriff. Handelte es sich um eine Bootsladung von einem Dutzend Kisten? Hatte ein dienstbarer Geist eine einzelne Flasche zum Probieren vorbeigebracht? Oder hatte der Conte das Weingut gekauft und ihnen ein paar Flaschen überlassen, mit der Bitte, sie zu beurteilen?
Brunetti kehrte in die Küche zurück und machte den Wein auf. Gewohnheitsmäßig schnupperte er am Korken, nachdem er ihn herausgezogen hatte, obwohl er eigentlich nie recht wußte, was es da zu riechen gab. Dieser roch nach Weinkorken, aber das taten fast alle. Er schenkte zwei Gläser ein und trug sie hinüber ins Wohnzimmer.
Paola nahm ihr Glas in Empfang und zog die Beine an, um ihm Platz zu machen. Er setzte sich, probierte einen kleinen Schluck und hoffte inständig, der Conte habe das Weingut gekauft. »Was liest du gerade?« fragte er. Paola hatte sich wieder in ihr Buch vertieft, hielt aber in einer Hand das Glas und schien, als sie daran nippte, sehr zufrieden.
»Lukas.«
In all den Jahren hatte sie sich nie angemaßt, auf einen ihren Lieblingsautoren anders als mit vollem Namen hinzuweisen. Nicht einmal der vergötterte Henry James machte da eine Ausnahme; geschweige denn, daß sie Jane Austen mit solch ungebetener Vertraulichkeit zu nahe getreten wäre. »Welcher Lukas?«
»Der Evangelist.«
»Der mit dem Neuen Testament?« fragte Brunetti, obwohl ihm nichts einfiel, was Lukas sonst noch geschrieben haben könnte.
»Ebender.«
»Und worum geht's?«
»Um den barmherzigen Samariter: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und so weiter.«
»Heißt das, du wirst nachher aufstehen und die nächste Flasche holen?«
Die Geste, mit der sie das Buch auf die Brust sinken ließ, fand er ein bißchen melodramatisch. Sie trank einen Schluck Wein und hob anerkennend die Brauen. »Schmeckt vorzüglich, aber ich glaube, eine Flasche reicht uns bis zum Essen, Guido.« Sprach's und setzte schon wieder das Glas an die Lippen.
»Ja, er ist sehr gut, nicht wahr?«
Sie nickte und nahm
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