Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
D'Alessio ausgesehen hatte, konnte der Makler sich nicht erinnern. Damit verlief die Spur, falls es denn eine gewesen war, im Sande.
Marvilli erwiderte keinen Anruf bei seiner Dienststelle, und Brunettis übrige Carabinieri-Kontakte gaben nicht mehr preis als die dürren Fakten, die sie zuvor schon der Presse mitgeteilt hatten: Die unrechtmäßig adoptierten Kinder wurden vorläufig in Sozialeinrichtungen betreut, und die Ermittlungen gingen ihren Gang. Immerhin erfuhr er, daß am Tag vor der Razzia ein Fax der Carabinieri in der Questura eingetroffen war, welches die venezianische Polizei sowohl über den geplanten Einsatz als auch über die Personalie Pedrolli informierte. Die ausbleibende Antwort der Polizei hatten die Carabinieri als Zustimmung gewertet. Auf Anforderung erhielt Brunetti eine Kopie des Faxes nebst Sendebestätigung.
Über all das hatte er dem Vice-Questore Bericht erstattet und dabei nicht unerwähnt gelassen, daß jegliche Versuche, das verschwundene Fax aufzuspüren, bisher fehlgeschlagen seien. Woraufhin Patta ihm, wie nicht anders zu erwarten, nahelegte, sich wieder seinen regulären Fällen zu widmen und Dottor Pedrolli den Carabinieri zu überlassen.
Was Brunetti sich nicht erklären konnte, war die auffallende Zurückhaltung der Medien. Bezüglich der Kinder hatten die offiziellen Stellen vermutlich zu deren Schutz auf Geheimhaltung von Namen und Aufenthaltsort gedrängt; gleichwohl wären immer noch die Eltern und die Mühen, die sie auf sich genommen hatten, um eine Adoption zu erlangen, für Leser und Zuschauer von Interesse gewesen. In einem Land, wo die Beteiligung von Kindern an einem Kriminalfall, sei es als Mordopfer, als Überlebende eines Anschlags - oder besser noch als Täter -, intensive Berichterstattung über Tage, wenn nicht gar Wochen garantierte, mutete es schon seltsam an, daß ausgerechnet dieser Fall so rasch aus dem öffentlichen Blickfeld verschwunden war.
Noch Jahre nach ihrer Verhaftung für den Mord am eigenen Kind war ein Interview, ja selbst ein trockener Bericht über »la madre di Cogne« ein todsicherer Quotenhit. Eine Ukrainerin, die ihr neugeborenes Baby in einen Container geworfen hatte, machte drei Tage lang Schlagzeilen. Pedrolli hingegen verschwand nach nur zwei Tagen aus der Lokalpresse; einzig La Repubblica walzte die Story noch so lange aus, bis sie von der Ermordung eines jungen Carabiniere abgelöst wurde. Der Täter, der bereits wegen Mordes einsaß, war inzwischen Freigänger und hatte sein Opfer während eines Wochenendausgangs erschossen.
Besonders die Geschwindigkeit, mit der Il Gazzettino und La Nuova Pedrollis Geschichte ad acta legten, kam Brunetti so eigenartig vor, daß er am zweiten Tag ohne einschlägige Pressemeldung seinen Freund Pelusso in dessen Büro anrief. Und von ihm erfuhr, daß in der Redaktion des Gazzettino gemunkelt werde, die Story habe irgendwem nicht geschmeckt und sei daraufhin gekippt worden.
Brunetti, ein eifriger Leser des Blattes, wußte, wer dort die meisten Anzeigen schaltete. Zudem hatte Signorina Elettra herausgefunden, daß Signora Marcolini dem Sanitärausstatterzweig der Familie entstammte. Darauf anspielend, deklamierte Brunetti: »Wer Klosett sagt, meint Marcolini.«
»Stimmt«, bekräftigte Pelusso. Doch jenem Rest von Sorgfaltspflicht gehorchend, den selbst Jahrzehnte in der journalistischen Tretmühle noch nicht ausgemerzt hatten, setzte er rasch hinzu: »Wegen seiner Tochter gilt er als der Hauptverdächtige, ja, aber sein Name ist hier nirgends gefallen.«
»Glaubst du, den muß man erst erwähnen?« fragte Brunetti. »Wie du schon sagst, sie ist seine Tochter, und diese Art von Publicity tut keinem gut.«
»Sei dir da nicht so sicher, Guido«, entgegnete der Journalist. »Die Carabinieri sind in ihr Haus eingedrungen: Nach allem, was durchgesickert ist, dürfte der Ehemann noch immer im Krankenhaus liegen. Und sie haben ihnen das Kind weggenommen. Das reicht vollauf, um dem jungen Paar eine Menge Sympathie zu verschaffen, unabhängig davon, wie sie zu dem Kind gekommen sind.«
Brunetti, der sich das auch schon gedacht hatte, schlug vor: »Dann eben die Carabinieri.«
»Warum sollten die so eine Zeitungsstory unterdrücken?«
»Nun, erstens, um eine Geschichte aus der Welt zu schaffen, die ein schlechtes Licht auf sie wirft, und zweitens, um die mutmaßlichen Hintermänner in Sicherheit zu wiegen, damit die sich aus der Deckung wagen.« Als Pelusso nichts dazu sagte, spann Brunetti seine
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