Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Gemeindemitglieder«, begann der Priester, korrigierte sich jedoch sofort: »das heißt, wenn ich eine Gemeinde hätte. So ist sie die Tochter eines der Männer, die ich in der Klinik betreue. Er liegt schon seit Monaten dort, und bei meinen Besuchen habe ich auch seine Tochter kennengelernt.«
Brunetti nickte, sagte aber nichts: seine übliche Taktik, wenn er jemanden zum Weiterreden ermuntern wollte. »Eigentlich geht es ja um ihren Sohn«, sagte der Priester und senkte den Blick wieder auf seinen Rock.
Da Brunetti weder das Alter des Klinikpatienten noch das seiner Tochter kannte, hatte er natürlich auch keine Ahnung, wie alt der Sohn dieser Frau sein und was er für ein Problem haben mochte. Doch wenn Antonin deswegen zu ihm kam, stand zu vermuten, dass es sich um irgendeinen Gesetzeskonflikt handelte.
»Seine Mutter macht sich große Sorgen um ihn«, fuhr Antonin fort.
Brunetti wusste nur zu gut, dass es vielerlei Ursachen haben konnte, wenn eine Mutter sich um ihren Sohn sorgte: Seine Mutter hatte sich um ihn und Sergio gesorgt, und Paola sorgte sich um Raffi, auch wenn das, was die meisten Mütter heutzutage um ihre Kinder bangen ließ, nämlich dass sie Rauschgift nehmen könnten, bei ihm kaum zu befürchten war.
Was für ein Glück, dachte Brunetti nicht zum erstenmal, in einer Stadt mit einem solch geringen Anteil jugendlicher Bevölkerung zu leben. Bei einer so kleinen Zielgruppe wie in Venedig lohnten sich die Mühen und Kosten nicht, die nötig waren, um einen Drogenhandel aufzuziehen: Immerhin ein positiver Nebeneffekt der vom Kapitalismus regierten Welt, für den man Gott danken konnte.
In Brunettis anhaltendes Schweigen hinein fragte Antonin: »Macht es dir was aus, wenn ich dich in dieser Sache zu Rate ziehe, Guido?«
Brunetti lächelte. »Ich weiß ja noch gar nicht, was du von mir willst, Antonin, also kann ich auch nichts dagegen haben.«
Zuerst schien der Priester erstaunt über diese Antwort, doch dann grinste er fast verlegen und sagte zustimmend: »Gia, gia. Es ist nicht leicht, darüber zu sprechen.« Und nach einer Pause setzte er hinzu: »Ich bin, scheint's, die Probleme unserer Wohlstandsgesellschaft nicht mehr gewohnt.«
»Ich weiß nicht genau, ob ich verstehe, was du meinst«, sagte Brunetti. Es war eine Feststellung, hinter der sich eine Frage verbarg.
»Dort, wo ich war, im Kongo, hatten die Leute mit anderen Problemen zu kämpfen: Krankheiten, Armut, Hungersnöten, Soldaten, die ihnen ihr Eigentum fortnahmen und manchmal sogar ihre Kinder.« Der Priester vergewisserte sich mit einem Blick auf Brunetti, dass der ihm weiter zuhörte. »Seither schaffe ich's irgendwie nicht mehr, mich auf Probleme einzulassen, bei denen es um weniger als das nackte Überleben geht; Probleme, die nicht aus Armut, sondern aus Reichtum erwachsen.« »Fehlt es dir?«, fragte Brunetti. »Was? Afrika?« Brunetti nickte.
Wieder beschrieb Antonin mit erhobenen Händen einen Bogen in der Luft. »Schwer zu sagen. Einiges geht mir schon ab: die Menschen, die ungeheuere Weite, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu leisten.«
»Aber du bist zurückgekommen«, konstatierte Brunetti, diesmal ohne fragenden Unterton.
Antonin sah ihm in die Augen. »Ich hatte keine Wahl«, sagte er.
»Aus gesundheitlichen Gründen?«, erkundigte sich Brunetti in Gedanken daran, wie hinfällig der Priester sich die Treppe hinaufgequält hatte und wie hager und schmächtig er ihm jetzt gegenübersaß.
»Ja«, erwiderte Antonin, »das spielte auch eine Rolle.« »Und was noch?«, hakte Brunetti nach, weil Antonin auf sein Stichwort zu warten schien.
»Konflikte mit meinen Vorgesetzten«, antwortete der Priester.
Antonins Probleme mit seinen Vorgesetzten interessierten Brunetti herzlich wenig. Dass es zu Zerwürfnissen gekommen war, wunderte ihn nicht, wenn er daran dachte, wie Antonin seinerzeit die anderen Kinder herumkommandiert hatte. »Du bist vor ungefähr vier Jahren zurückgekommen, nicht wahr?«, fragte er. »Ja.«
»Damals hat da unten der Krieg begonnen?« Antonin schüttelte den Kopf. »Im Kongo wird immer Krieg geführt. Zumindest dort, wo ich war.«
»Und um was?«
Antonin überraschte ihn mit einer Gegenfrage. »Interessiert dich das wirklich, Guido, oder bist du bloß höflich?« »Nein, es interessiert mich.«
»Also gut. Bei dem Krieg, wobei es stets mehr als einen gibt, denn er zerfällt in viele Minikriege oder Beutekriege oder räuberische Überfälle, geht es immer darum, anderen etwas abzujagen, das
Weitere Kostenlose Bücher