Brunetti 18 - Schöner Schein
genommen hatte.
Ruote. Brunetti liebte mote. Mit den melanzane, dem Ricotta und den kleingeschnittenen Tomaten als Sauce waren sie für ihn die perfekte Pasta. »Warum ruote?«, fragte er.
Paola schien überrascht. »Wie bitte?«
»Warum nimmst du ruote zu dieser Sauce?«, sagte Brunetti; er spießte eine der radförmigen Nudeln auf und hielt sie hoch, um sie genauer zu untersuchen.
Sie sah auf ihren Teller, als staune sie selbst darüber, dort gerade diese Nudelform zu entdecken. »Weil...«, fing sie an und stocherte mit der Gabelspitze in den vielspeichigen Nudeln herum. »Weil...«
Sie legte die Gabel ab und nahm einen Schluck Wein. Dann sah sie Brunetti an und sagte: »Ich habe keine Ahnung, aber die nehme ich immer. Ruote passen gut zu dieser Art von Sauce.« Und aufrichtig besorgt: »Magst du die nicht?«
»Ganz im Gegenteil. Ich finde sie genau richtig, aber ich weiß nicht warum und dachte, vielleicht kannst du es mir sagen.«
»Vermutlich kommt es daher, dass Luciana zu ruote immer eine Sauce mit kleingeschnittenen Tomaten gemacht hat.« Sie spießte ein paar auf und hielt sie hoch. »Eine bessere Erklärung fällt mir auch nicht ein.« »Bekomme ich einen Nachschlag?«, fragte Raffi. Die anderen am Tisch hatten noch nicht einmal die Hälfte ihrer Portionen gegessen; ihn interessierte nicht die Form der Nudeln, nur ihre Menge.
»Natürlich«, sagte Paola. »Es ist genug da.«
Während Raffi sich bediente, fragte Brunetti und wusste gleich, dass er das wahrscheinlich bereuen würde: »Wovon hast du gesprochen, als ich eben gekommen bin, Chiara? Irgendwas mit gesetzlichen Grenzwerten?«
»Die micropolveri«, sagte Chiara mit vollem Mund. »Die Professoressa hat uns das heute in der Schule erklärt. In der Luft schwebt jede Menge Feinstaub herum, Gummipartikel und Chemikalien und weiß der Himmel was noch alles, und wir atmen das ein.«
Brunetti nickte und nahm noch etwas Pasta.
»Und eben habe ich in der Zeitung gelesen...«, sie legte die Gabel ab und bückte sich, um die aufgeschlagene Zeitung vom Boden aufzuheben. Sie überflog den Artikel, bis sie die Stelle gefunden hatte. »Hier«, sagte sie und las vor: »... bla bla bla, ›die Belastung mit micropolveri hat die gesetzlich zulässigen Grenzwerte um das Fünfzigfache überschritten‹«
Sie ließ die Zeitung wieder auf den Boden fallen und sah ihren Vater an. »Das verstehe ich nicht: Wenn die Grenze eine gesetzliche Grenze ist, was passiert dann, wenn sie um das Fünfzigfache überschritten wird?«
»Oder auch nur um das Zweifache«, ergänzte Paola.
Brunetti legte die Gabel hin und sagte: »Dafür ist die Protezione Civile zuständig, würde ich sagen.«
»Können die irgendwen verhaften?«, wollte Chiara wissen.
»Ich glaube nicht, nein.« »Oder ein Bußgeld verhängen?« »Auch das nicht, glaube ich.«
»Und wozu gibt es dann einen gesetzlichen Grenzwert, wenn man nichts gegen die Leute unternehmen kann, die gegen das Gesetz verstoßen?«, stieß Chiara wütend hervor.
Brunetti hatte seine Tochter von dem Moment an geliebt, als er von ihrem Dasein erfahren hatte, von dem Moment an, als Paola ihm erzählt hatte, dass sie ihr zweites Kind erwarteten. Und diese Liebe stand jetzt zwischen Brunetti und dem Eingeständnis, dass sie in einem Land lebten, wo Leute, die gegen das Gesetz verstießen, selten mit einer Strafe rechnen mussten.
Stattdessen sagte er: »Ich nehme an, die Protezione Civile wird offiziell Klage einreichen, und dann wird jemand mit der Untersuchung des Falles beauftragt.« Derselbe Impuls, der ihn von seinem spontanen Kommentar abgehalten hatte, ließ ihn nun von der Bemerkung Abstand nehmen, dass man unmöglich gegen einen bestimmten Schuldigen ermitteln konnte, solange die meisten Fabriken sich nicht um die Vorschriften scherten und die vor Anker liegenden Kreuzfahrtschiffe ihren ganzen Dreck ins Wasser leiteten.
»Aber man hat doch schon Untersuchungen angestellt, oder wie ist man sonst auf diese Zahlen gekommen?«, fragte Chiara, als machte sie ihn dafür verantwortlich, und wiederholte ihre Frage von vorhin: »Und was sollen wir machen, bis da wirklich mal was untersucht wird? Nicht mehr atmen?«
Brunetti fand es entzückend, wie seine Tochter die rhetorischen Kunstgriffe ihrer Mutter anwandte, sogar das alte Schlachtross der Logik, die rhetorische Frage. Ah, sie würde noch viel Ärger machen, die Kleine; wenn sie ihre Leidenschaft und ihre Empörung doch nur ein wenig in Zaum halten könnte.
Etwas
Weitere Kostenlose Bücher