Brunetti 18 - Schöner Schein
wiederholte Vermutung, endlich habe die Regierung in ihrem beharrlichen Kampf gegen das organisierte Verbrechen den Sieg davongetragen. Als ob der Tod des Chefs von General Motors oder British Petroleum diese Giganten in die Knie zwingen könnte. Hatte noch nie jemand etwas von Vizechefs gehört?
Wenn überhaupt etwas, so half die Festnahme dieser Dinosaurier jüngeren Männern an die Spitze, akademisch ausgebildeten Männern, die noch besser befähigt waren, ihre längst zu internationalen Großkonzernen gewordenen Unternehmen zu lenken. Und er konnte auch nie vergessen, dass die Verhaftung zweier dieser Männer etwa zeitgleich mit dem indulto stattgefunden hatte, jenem huldreichen Erlass, der über 24 000 Kriminelle, darunter zahlreiche Fußsoldaten der Mafia, auf freien Fuß gesetzt hatte. Ach, wie kulant die Gesetze doch sein konnten, wenn nur die Richtigen am Hebel saßen.
16
B runetti kam zu dem Schluss, er müsse mit Patta über Guarino sprechen, doch als er in die Questura kam, sagte ihm der Wachmann am Eingang, der Vice-Questore habe das Haus vor einer Stunde verlassen. Erleichtert ging er in sein Büro hinauf und bestellte Vianello zu sich. Als der Ispettore eingetreten war, erzählte er ihm von dem Besuch in Marghera und von Guarino, der dort auf offenem Gelände tot auf dem Rücken gelegen habe.
»Von wo hat man ihn dorthin gebracht?«, fragte Vianello als Erstes.
»Das lässt sich nicht mehr feststellen. Die Männer, die ihn gefunden haben, sind zigmal um ihn herumgetrampelt.« »Wie günstig«, bemerkte Vianello.
»Bevor du dich in Verschwörungstheorien hineinsteigerst«, fing Brunetti an - der diesen Gedanken auch schon gehabt hatte -, aber Vianello unterbrach ihn:
»Du traust diesem Ribasso?«
»Ich denke schon, ja.«
»Dann verstehe ich nicht, warum du ihm den Namen des Mannes auf dem Foto verschwiegen hast, das Guarino dir geschickt hat.«
»Gewohnheit.« »Gewohnheit?«
»Oder Revierverhalten«, kam Brunetti ihm entgegen.
»Ziemlich verbreitet«, sagte Vianello. »Nadia meint, das ist wie mit den Ziegen.«
»Was für Ziegen? Wovon redest du?«
»Na ja, von dem, was man so vererbt, wem wir die Ziegen hinterlassen, wer sie bekommt, wenn wir sterben.« Hatte Vianello plötzlich den Verstand verloren, oder benutzte Nadia den Garten hinter ihrer Wohnung für etwas anderes als Blumenbeete?
»Vielleicht drückst du dich mal so aus, dass ich dir folgen kann, Lorenzo«, sagte er, froh über die Ablenkung.
»Du weißt doch, dass Nadia liest?«
»Ja«, sagte er und dachte bei dem Stichwort an eine andere Frau, die las.
»Nun, sie hat eine Einführung in die Anthropologie gelesen oder so was Ähnliches. Soziologie, kann auch sein. Sie hat mir beim Essen davon erzählt.«
»Was hat sie erzählt?«
»Ich sagte doch, sie hat ein Buch über Vererbung und Verhalten gelesen. Es gibt da eine Theorie, warum Männer so oft Aggressivität und Konkurrenzdenken an den Tag legen - warum so viele von uns Schweine sind. Sie sagt, das kommt daher, dass wir uns ständig bemühen, die fruchtbarsten Weibchen zu erobern.«
Brunetti stützte beide Ellbogen auf den Schreibtisch und ließ stöhnend den Kopf in seine Hände sinken. Er brauchte Ablenkung, aber nicht so.
»Schon gut, schon gut. Aber diese Einleitung war notwendig«, beteuerte Vianello. »Sowie sie das fruchtbarste Weibchen erobert haben, schwängern sie es; und damit können sie sicher sein, dass die Kinder, denen sie die Ziegen vererben, wirklich ihre eigenen sind.« Vianello spähte über den Schreibtisch, ob Brunetti ihm zuhörte, aber der hielt immer noch den Kopf in den Händen vergraben. »Ich fand das logisch, als sie es mir erklärt hat, Guido. Wir alle wollen Hab und Gut an die eigenen Kinder vererben, nicht an irgendein Kuckuckskind.«
Da Brunetti weiterhin schwieg - immerhin hatte er aufgehört zu stöhnen -, fügte Vianello hinzu: »Deswegen stehen Männer in Konkurrenz miteinander. Die Evolution hat uns dazu bestimmt.«
»Wegen der Ziegen?«, fragte Brunetti und hob den Kopf.
»Ja.«
»Was dagegen, wenn wir ein andermal darüber sprechen?«
»Meinetwegen.«
Ihre Unbeschwertheit kam Brunetti plötzlich unangebracht vor; er sah die Papiere auf seinem Schreibtisch an und wusste nicht, was er sagen sollte. Vianello stand auf, murmelte, er habe etwas mit Pucetti zu besprechen, und ging. Brunetti starrte weiter vor sich hin.
Sein Telefon klingelte. Es war Paola, die ihn daran erinnerte, dass sie am Abend an einem Abschiedsessen für
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