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Buch Der Sehnsucht

Titel: Buch Der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Gruen
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Kindheit aussöhnen, werden sie unweigerlich immer wieder in lebensbedrohliche Konflikte geraten. Sie dürfen ihre Sehnsucht nicht dazu missbrauchen, den Konflikten auszuweichen. Wie jede Haltung hat auch die Sehnsucht nach Harmonie etwas Zwiespältiges. Sie kann mich dazu antreiben, um mich herum eine Atmosphäre des Verständnisses und der Harmonie zu schaffen. Sie kann aber auch dazu führen, dass ich allen Konflikten aus dem Weg gehe und alle Probleme unter den Teppich kehre. Dann entsteht nur eine Scheinharmonie. Wer Harmonie sucht, den sollte die Sehnsucht danach dazu antreiben, an einer guten Konfliktlösung zu arbeiten. Dann wird die Sehnsucht nicht nur diesem Menschen, sondern auch seiner Umgebung zum Segen. Die Sehnsucht nach Harmonie ist also ambivalent. Sie kann zur Flucht vo r der Realität führen. Sie kann aber auch zum Motor werden, zerstrittene Menschen an einen Tisch zu bringen, die Probleme offen anzusprechen und nach einem Weg zu suchen, wie Menschen verschiedener Meinung offen und ehrlich miteinander umgehen können, ohne die Gegensätze zu verwischen. Die Sehnsucht nach Harmonie darf aber nicht dazu führen, die Gegensätze in der eigenen Seele zu übersehen. Wir spüren sie alle: die Gegensätze von Liebe und Härte, Sehnsucht nach Stille und Drang nach außen, Introversion und Extraversion, Achten auf die eigenen Gefühle und Missachtung des Leibes, Trauer und Freude, Vertrauen und Angst, Einsamkeit und Gemeinschaft. Sie sind oft so stark, dass sie einen Menschen zerreißen. Sie können aber auch strömendes Leben erzeugen. Denn ohne Spannung gibt es kein Leben. Es geht darum, die Spannung des Herzens nicht vorschnell aufzulösen oder einer Sehnsucht nach Harmonie zu opfern, sondern sie fruchtbar werden zu lassen. Suche also die Spannung, die das Leben und die Liebe in dir strömen lassen, damit von dir Leben ausgeht für die Menschen in deiner Umgebung.

    ANGEZOGENE HANDBREMSE

    Der psychologisch geschulte Seelenkenner Anthony de Mello sieht in der Sehnsucht auch eine Gefahr. Man kann sich so in seine Sehnsucht hineinsteigern, dass man dem Leben ausweicht, das Gott einem zugedacht hat. Die gesunde Sehnsucht ermöglicht es mir, ja zu sagen zu meinem Leben, auch mit seiner Banalität und Durchschnittlichkeit. Es gibt aber auch eine andere Sehnsucht, die nie zufrieden ist und immer mehr möchte. Von ihr sagt de Mello: „Viele meinen, wenn sie keine Sehnsüchte hätten, wären sie wie ein Stück Holz. In Wirklichkeit würden sie jedoch nur ihre Verspanntheit verlieren. Befreien Sie sich von Ihrer Angst zu versagen, von Ihrer Anspannung, Erfolg haben zu müssen, und Sie werden bald Sie selbst sein - entspannt. Sie werden dann nicht mehr mit angezogener Handbremse fahren." Die Sehnsucht, von der de Mello hier spricht, führt den Menschen weg vom Augenblick, in dem das Entscheidende geschieht. Anstatt in der Gegenwart zu leben, spannen sich manche Menschen mit ihrer Sehnsucht aus nach der Zukunft und suchen dort das Leben. Doch wenn ich das, was Leben ausmacht, nicht im Augenblick finde, werde ich es auch nicht in der Zukunft wahrnehmen.

    DIE WEISHEIT DES TAGORE

    „Meine Augen haben viel gesehen, aber sie sind nicht müde. Meine Ohren haben viel gehört, aber sie verlangen nach mehr." Der indische Philosoph und Dichter Tagore, von dem dieser Satz stammt, ist viel in der Welt gereist. Dennoch wurden seine Augen nie müde, die Schönheit der Welt zu sehen. Er hat sich offensichtlich einen Blick für die Schönheit und für das Geheimnis dieser Welt bewahrt. In allem, was er gesehen hat, hat er etwas von der Schönheit Gottes erblickt. Und er hat in den Gesichtern der Menschen ihre Erfahrungen und ihre Sehnsüchte entdeckt. In ihren Bauten, in ihrer Kultur hat er das Geheimnis des menschlichen Herzens gesehen. Wer so zu schauen vermag, dass er mit dem Geschauten eins wird, dass er sich im Schauen selbst vergisst und das Unsichtbare sieht, dessen Augen werden niemals müde. Manchmal verstopfen wir unsere Ohren, um den Lärm um uns herum nicht zu hören. Oder wir haben genug, wenn uns Menschen über ihre Probleme erzählen. Wir wollen nichts mehr hören. Tagore hat bei seinen Reisen viel gehört. Er hat den Menschen zugehört, denen er begegnet ist. Und es war ihm nie zu viel. Er wollte immer noch mehr hören. War er nur neugierig? Ich glaube nicht. Es gibt Menschen, die wollen ständig Skandalgeschichten hören. Ihr Hören tut nicht gut. Ihre Ohren locken aus uns etwas heraus, was wir

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