Buch Der Sehnsucht
sehnen wir uns danach, zu wachsen, reifer zu werden, zufriedener, ausgeglichener, liebender. Man kann den Satz Kierkegaards resignierend aussprechen. Dann wäre die Sehnsucht freilich in Gefahr, zum Selbstmitleid zu verkommen. Wir würden im Selbstmitleid darüber ertrinken, das wir es nie schaffen so zu sein, wie wir eigentlich möchten. Solche Sehnsucht würde uns nicht weiterbringen. Sie wäre wie eine Flucht, unsere eigene Wahrheit genauer anzuschauen. Man kann die Worte des dänischen Gottsuchers aber auch anders verstehen. Indem ich mich danach sehne, der zu sein, der ich sein könnte, strecke ich mich nach dieser innerlich erblickten Gestalt aus. Wenn Sehnen von der Sehne kommt, die sich ausstreckt und anspannt, dann eröffnet sich hier eine neue Sicht: Die Sehnsucht lehrt mich dann das innere Wachsen, damit ich mehr und mehr in das Bild hineinwachse, das ich von mir entworfen habe. Allerdings muss ich mein Bild von mir immer wieder daraufhin überprüfen, ob es meinem Wesen entspricht, oder ob es eine Illusion ist, mit der ich der eigenen Wirklichkeit entfliehen möchte.
ENTTÄUSCHUNG HÄLT WACH
Zu unserem Leben gehören Enttäuschungen. Unsere Familie enttäuscht uns, unser Beruf enttäuscht uns. Wir sind von uns selbst enttäuscht. Wir haben uns Illusionen gemacht über uns und die ändern. Wir haben uns getäuscht. Das zu erkennen, ist schmerzlich. Viele weichen dieser schmerzlichen Erkenntnis lieber aus. Aber dabei droht eine Gefahr: Sie sind dann ständig auf der Flucht vor sich selbst, kommen nie zur Ruhe. Wenn wir uns unserer Sehnsucht stellen, dann können wir uns damit aussöhnen, dass unser Beruf unsere Erwartungen nicht erfüllt. Dann sind wir einverstanden mit uns selbst, mit unseren Fehlern und Schwächen. Wir müssen uns selbst ja gar nicht genügen. Unsere Sehnsucht geht darüber hinaus. Der schönste Beruf allein vermag unsere Sehnsucht nicht zu erfüllen. Die Sehnsucht relativiert alles, was wir hier tun. Dadurch befreit sie uns von dem verbissenen Streben nach immer mehr Erfolg und Anerkennung. Sie befreit uns von dem Druck, unter den wir uns oft selbst setzen. Ich erlebe bei vielen Menschen, dass sie nicht bei sic h selbst sind, sondern bei den andern, bei dem, was die anderen von ihnen erwarten. Und weil sie meinen, sie müssten diese Erwartungen erfüllen, setzen sie sich selbst unter Druck. Die Sehnsucht bringt uns in Berührung mit uns selbst. Wenn ich sie spüre, dann bin ich in meinem Herzen. Dort haben die anderen mit ihrer Erwartung keine Macht über mich. Die Sehnsucht bewahrt mich also davor, auf die Enttäuschungen meines Lebens mit Resignation zu reagieren. Im Gegenteil, die Enttäuschung hält meine Sehnsucht wach. In vielen Gesprächen wurde mir noch etwas anderes deutlich: Echte Sehnsucht hilft mir auch, mit den Enttäuschungen meines Lebens besser umzugehen. Die Sehnsucht nach dem Eigentlichen und nach dem Geheimnis meines Lebens wird sowohl durch Erfüllung als auch durch Enttäuschung entfacht.
Wenn ich ein Gespräch mit einem Freund genieße, weckt es zugleich die Sehnsucht nach völligem Verstehen und Einswerden. Die Sehnsucht hilft mir, das Gespräch in seiner Tiefe wahrzunehmen und mich von ihm über mich hinaus führen zu lassen. Wenn ich einen schönen Urlaub erlebe, sehne ich mich nach absoluter Freiheit und Lebendigkeit. Die Sehnsucht zerstört meinen Urlaub nicht, sondern lässt ihn mich erst in seiner wahren Dimension und Verheißung erleben. Ich habe dann keine Angst, nach dem Urlaub wieder ins Loch zu fallen. Denn die Sehnsucht, die der Urlaub geweckt hat, bleibt in mir lebendig und wirksam. Die Sehnsucht ist nicht der Feind der Erfüllung, sondern sie ermöglicht es mir, die Liebe, die Geborgenheit, die Begegnung, das Glück erst in seiner Fülle wahrzunehmen. Weil das, was ich erlebe, nicht alles ist, sondern über sich hinausweist auf die eigentliche Vollendung, kann ich das, was ist, in Freiheit und innerer Freude genießen. Ich muss den schönen Augenblick nicht krampfhaft festhalten. Ich kann das Erlebte wieder loslassen. Es hat mich berührt, und es hat Sehnsucht in mir geweckt. Das bleibt in mir.
WENN ALLES ZU VIEL WIRD
Ich erlebe immer wieder Menschen, die darüber jammern, dass ihre Mitmenschen so schwierig sind. Der Ehepartner hat zu wenig Verständnis. Die Arbeitskollegin geht einem auf die Nerven. Die Gemeinschaft enttäuscht mich immer wieder, weil sie so durchschnittlich und banal ist. Ich kenne Menschen, die in einer
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