Buch Der Sehnsucht
als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, als Krankenkassenbeitrags zahler oder Rentenempfänger. Sie sind nichts als das, was die Statistik über sie sagt. Das macht die Seele krank. In den Träumen darf die Seele atmen. Da kann sie sich ausstrecken und ihre eigene Weite erleben. Und die weite Seele macht auch den engen und begrenzten Leib gesund, in dem sie lebt.
NICHT EINGESCHLOSSEN
„Träume - der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, als es scheint." Der Dichter Friedrich Hebbel hat mit diesem Satz etwas formuliert, das wir jede Nacht erfahren können. Die nächtlichen Träume führen uns ja in eine andere Welt. Sie zeigen uns, dass unser Leben bunter ist, als es sich im Alltag oft darbietet. Im Traum gelten die Naturgesetze nicht. Da verwandeln sich Tiere in Menschen. Da setzen wir die Schwerkraft außer Kraft und fliegen. Da werden sogar Männer schwanger und alte Frauen bekommen ein Kind. Der Traum sagt mir nicht nur, wie es um mich steht. Er gibt mir oft auch die Schritte an, wie ich auf meinem Weg weiterkommen kann. Und der Traum verweist mich auf die Möglichkeiten, die in mir stecken. Wenn ich von einem Kind träume, dann weiß ich, dass etwas Neues in mir geboren werden will, dass ich im Begriff bin, mit meinem wahren Selbst in Berührung zu kommen. Im Traum weitet sich die Welt für mich. Da tauche ich ein in den göttlichen Wurzelgrund. Da sehe ich hinter die Welt. Da geht mir das Geheimnis der Welt auf. Es gibt aber nicht nur den nächtlichen Traum. Jeder Mensch hat seine Lebensträume. Als Kind träumte er vielleicht davon, dass sein Leben gelingt, dass er diese Welt verändert. Diese Träume sind keineswegs Schäume. Viele Erwachsene legen freilich ihre Lebensträume ab und leben einfach in den Tag hinein. Doch ihr Leben wird leer und oberflächlich. Nur von dem, der mit seinen Lebensträumen in Berührung ist, wird etwas ausgehen können, das diese Welt verwandelt. Nur wer noch Träume hat, kann in dieser Welt etwas bewegen. Wir sind mehr als dieses Stück Leib, das von unserer Haut umschlossen wird. In uns leben Träume, die das eigene Herz weiten und diese Welt in Bewegung bringen können.
WIRKLICHES LEBEN
Viele suchen nach einem Ratgeber, der ihnen sagt, welchen Weg sie beschreiten und wie sie diesen Weg gehen sollen. Und sie suchen nach geistlichen Führern, die ihnen dabei helfen können. Auch der Dichter soll ihnen ein Begleiter auf dem Weg sein. Hermann Hesse
- von vielen Lesern sicher als ein solcher Seelenbegleiter verstanden - wehrt sich gegen diese Erwartung: „Das Amt des Dichters ist nicht das Zeigen der Wege, sondern vor allem das Wecken der Sehnsucht." Ähnlich denkt Paul Celan, wenn er vom Dichter die Kunst fordert, das Unaussprechliche zur Sprache zu bringen. Dahinter steht ein vergleichbar hohes Verständnis von Kunst. Indem der Dichter das Unnennbare nennt, das Unsichtbare sichtbar werden lässt, öffnet er das menschliche Herz für den weiten Horizont des Unendlichen. Für mich wird das bei Hermann Hesse am deutlichsten in seinem Roman „Narziss und Goldmund". Hier beschreibt er die Sehnsucht von Goldmund nach seiner Mutter.
Die Sehnsucht treibt ihn an, immer neue Frauenbeziehungen zu suchen, bis er schließlich, müde geworden, im Kloster seines Freundes Narziss ankommt. Dort beginnt er eine Madonna zu schnitzen, in die er seine Sehnsucht nach der verlorenen Mutter hineinlegt. Meine erste Lektüre von „Narziss und Goldmund" hat in mir die Sehnsucht nach einer Geborgenheit geweckt, die das vordergründige Angenommenwerden durch geliebte Menschen übersteigt. Auch als ich den „Steppenwolf“ las, kam ich mit meiner Sehnsucht in Berührung. Zwar wusste ich nach dem Lesen nicht, was ich nun in meinem Leben konkret ändern sollte. Aber mein Herz war weit geworden. Alles hatte darin Platz. Und es sehnte sich nach wirklichem Leben, nach Ekstase, nach Gelassenheit, nach der Leichtigkeit der Mozartschen Musik.
VORBOTEN, VORGEFÜHLE
Was sich ein Mensch wünscht, sagt immer etwas über seine Seele aus. Da gibt es Wünsche nach einem Schlaraffenland, die zeigen, dass man immer noch im Mutterschoß verweilen möchte. Und es gibt ganz konkrete Wünsche nach Freundschaft, nach einem erholsamen Urlaub, nach einem guten Essen, nach einem besseren Arbeitsklima. Einer wünscht sich, einen Berg zu besteigen, der andere, entspannt im Wasser zu schwimmen. All diese Wünsche locken uns aus der Passivität heraus. In unseren
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