Buch Der Sehnsucht
Zauberwort." Dieses Lied Joseph von Eichendorffs ist zu einer Kennmelodie der Romantik geworden. Dennoch geht sie über ihre Entstehungszeit hinaus und bezieht sich nicht nur auf die Dichtung. Jeder, der schreibend etwas ausdrücken möchte, jeder Schriftsteller sehnt sich nach dem rechten Wort, nach dem Wort, das wie ein Schlüssel ist, der das Geheimnis der Welt auftut. Auch ich spüre dies beim Schreiben. Ich leide daran, dass die Worte nicht treffen, was ich im Innersten erahne und was ich ausdrücken möchte. Schreiben ist ein Ringen um Worte, die das Herz des Menschen berühren und es öffnen für das, wonach es sich im Tiefsten sehnt. Man möchte meinen, die Dichter und Schriftsteller hätten schon alles gesagt, was zu sagen ist. Und ich selbst hätte doch auch schon längst gesagt, was in mir ist. Warum dann immer weiterschreiben? Schreiben ist das Trachten danach, das Geheimnis zu treffen, das in allem liegt. Eichendorff drückt diese Sehnsucht nach dem rechten Wort in unübertroffener Weise aus. Er glaubt, dass das rechte Wort die Welt singen lässt. Denn in allen Dingen schläft ein Lied. Es ist das Lied der Sehnsucht nach der wahren Schönheit, die in allem liegt, nach der Liebe, die alles durchdringt, nach dem Leben, das mir in der Schöpfung entgegenströmt und mich lebendig macht.
Wenn ich das Zauberwort, das Schlüsselwort finde, dann hebt die Welt an zu singen, dann erklingt das wahre Loblied zu Ehren dessen, der diese Welt geschaffen hat und in allem lebendig ist, was ist. In allem, was wir sehen, schläft das Verborgene, in dem sich Gott selbst verbirgt. Also will jedes Ringen nach dem rechten Wort das Entbergen des Verborgenen bewirken, das Offenbarmachen des Unsichtbaren, das Zur-Sprache-Bringen des Unaussprechlichen. Auch wenn viele Dichter uns die Augen geöffnet haben für das Geheimnis, das in allem liegt, so braucht es in jeder Zeit immer wieder neue Dichter, die uns die Zauberworte schenken, damit wir offen werden für das unendliche und nie zu ergründende Geheimnis, das in allem anwesend ist.
GEFÄHRLICHE TRÄUME
Als Kind hatten wir alle unseren eigenen Lebenstraum. Viele Erwachsene tun ihre Kinderträume als bloße Schäume ab. Sie passen sich lieber der Realität an. Doch dabei wird ihr Leben oft dumpf und leer. Sie funktionieren, aber sie leben nicht. Träume gehören zum Leben. Ohne Träume, die über das Tagesgeschehen hinausgehen, verlieren wir unsere Lebendigkeit und Phantasie. „Wenn es gefährlich ist, ein bisschen zu träumen, dann ist das Heilmittel dagegen nicht, weniger zu träumen, sondern mehr, ja die ganze Zeit zu träumen." Marcel Proust hat das gesagt. Der Autor des Buches „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", eines der ganz großen Romane über Erinnerung und Sehnsucht, meint mit den gefährlichen Träumen nicht den nächtlichen Traum, der über uns kommt, sondern den Tagtraum, den wir selbst entwerfen. Marcel Proust gibt zu: Träume sind gefährlich. Sie destabilisieren in der Tat die Verhältnisse. Seit je haben daher Tyrannen Träume verabscheut. Denn noch in der größten Tyrannei träumen die Menschen von der Freiheit. Und in ihren Träumen fühlen sie sich frei. Der Tyrann kann nur ihre äußeren Verhältnisse bestimmen, aber nicht ihre Seele, die sich in den Träumen von Weite und Freihe it ihre eigenen Räume schafft. In den Träumen wird sichtbar, dass sich unsere Seele in keinen Käfig sperren lässt, weder in den eines Tyrannen noch in den Käfig der alltäglichen Pflichten. Marcel Proust gibt uns einen Rat, der paradox erscheint. Er rät uns, die ganze Zeit zu träumen. Ist das nicht unrealistisch? Ist das nicht Flucht in eine Scheinwelt? Sicherlich meint der französische Romancier nicht, dass wir uns in Träume flüchten sollen, um den Anforderungen des Alltags auszuweichen. Es geht ihm vielmehr darum, gegen die Tyrannei des Vordergründigen anzuträumen, dem oberflächlichen Treiben die Macht zu nehmen. Es gibt noch etwas anderes als die Arbeit und das bloße Überleben. Es gibt die Welt der Phantasie, in der wir in Berührung kommen mit den Möglichkeiten unserer Seele, mit dem inneren Reichtum, den Gott uns geschenkt hat. Wer in seinen Träumen den Schatz in seiner Seele entdeckt, der kann sich auch des Banalen in seinem Alltag annehmen, ohne selbst banal zu werden. Der Tiefenpsychologe und Kenner der menschlichen Seele C. G. Jung meinte einmal, die Leute würden heute krank wegen der Banalität ihres Lebens. Sie fühlen sich nur
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