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Buch Der Sehnsucht

Titel: Buch Der Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Gruen
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die blaue Blume entgegen. Sie macht das Unsichtbare sichtbar. Sie lässt das Unaussprechliche sprechen. Die Dichtung vermittelt, was Novalis in den Satz gekleidet hat: „Wir sind mit dem Unsichtbaren näher als mit dem Sichtbaren verbunden." Hinter diesem Satz stand eine einschneidende existentielle Erfahrung. Seit dem Tod seiner geliebten Braut fühlte sich der junge Novalis dem Unsichtbaren näher verbunden als dem Sichtbaren. Der Dichter ging als Fremdling über die Erde. Doch auf seinem Weg erlebte er immer wieder die unbeschreibliche Freude, wenn ihm das Unsichtbare erschien und der Himmel sich über ihm öffnete. Sein tragisches Liebesschicksal deutet er als „Beruf zur unsichtbaren Welt".

    Die Geliebte trug den Namen Sophie. Sie wurde für den Dichter zur Quelle der Weisheit und zur Brücke in die jenseitige Welt, die seine eigentliche Welt war. In seinen Dichtungen nimmt er uns mit in diese ganz andere Welt, um in uns die Sehnsucht nach der göttlichen Liebe zu wecken, die in dieser Welt überall und nirgends aufleuchtet und erfahrbar wird. Seine Wanderung über diese Welt wurde von der Gewissheit getragen: „Wo gehen wir denn hin? - Immer nach Hause."

    WANDLUNG

    Sehnsucht ist der Anfang aller Wandlung. Und dies ist etwas ganz anderes als Veränderung. Die Veränderung ist etwas für Macher, Planer und Aktivisten. Wandlung wird nicht gemacht: sie geschieht. Wandlung will nicht die Dinge in den Griff bekommen, Fehlerhaftes abstellen oder mit Gewalt vermeiden. Sie arbeitet nicht mit Getöse, sondern bedächtig und leise. Denn was wächst, macht keinen Lärm. Wenn wir gelassen akzeptieren, was wirklich ist, und nichts verdrängen, dann kann das Wunder geschehen, von dem viele Märchen erzählen. Dann erleben wir plötzlich und ohne unser Zutun das Erlösende, das Befreiende, das Andere. Da wird aus dem Frosch ein Prinz und aus dem Aschenputtel eine Prinzessin. Da kommt der arme junge Mann über Nacht zu unermesslichem Reichtum. Da wird das unscheinbare Mädchen zu einer wunderschönen Königin. Der KUSS des Prinzen weckt Dornröschen aus ihrem Schlaf und schenkt ihr ein neues, glückliches Leben.
    Die Märchen wissen, dass es für das Leben kein Rezept gibt. Umwege und Irrwege sind nicht ausgeschlossen. Es gibt kein Programm und keinen Meisterplan. Wir können nichts tun. Ein anderer tut es an uns. Wandlung geschieht in der Begegnung, in der Liebe. Der wohlwollende Blick des anderen verwandelt uns. Wenn uns die Liebe begegnet, gehen wir erneuert daraus hervor. Ein anderer Mensch kann etwas aus uns herauslieben, was vorher verborgen in uns geschlummert hat. Liebe weckt in uns eine Kraft, die uns unser eigenes Geheimnis entdecken lässt. Aber auch die Bibel ist voll von solchen Geschichten, die Verheißungen sind: Dass das Meer zu trockenem Land und zu festem Boden wird. Dass aus einem harten Felsen plötzlich Wasser strömt, ein Stein zur Quelle neuen Lebens wird. Dass die Wüste plötzlich blüht, dass ein Dornbusch zum strahlenden Ort göttlicher Gegenwart wird. Dass wir in unserer Armseligkeit zum Abbild der Herrlichkeit werden. Nicht wir vollbringen dieses Wunder. Gott tut es an uns. Wir müssen nur der Spur unserer Sehnsucht folgen, die uns zu ihm zieht, und uns ihm hingeben. Wer sich auf den Weg macht, dessen Sehnsucht wird gestillt. Er wird den Segen erfahren.

    VOM DUFT DER DINGE

    Jedes Ding hat seinen eigenen Duft. Wenn wir einen bestimmten Duft riechen, erinnern wir uns an das, was uns einmal tief bewegt hat. Riechen ist ein sehr mit Emotionen verbundener Sinn. Ich erfahre es immer wieder selbst: Wenn ich Heu rieche, denke ich an Urlaub. Wenn ich Weihrauch rieche, fallen mir Weihnachten und Dreikönig ein, wie wir sie als Kinder gefeiert haben, und ich ahne dabei auch etwas vom Geheimnis des Göttlichen, wie es mir etwa in den Kirchen auf dem Berg Athos aufgegangen ist, die voll von Weihrauchduft sind. Schon vom Wort her hat Sehnsucht etwas mit dem Duft, dem Dunst, der Luft, dem Tau zu tun. Denn das griechische Wort für Sehnsucht epithymia hat die Wurzel thymós = „Rauch, Duft, Wind". Aber auch die Erfahrung zeigt uns, dass Sehnsucht und Duft zusammengehören. Wer einen bestimmten Duft riecht, etwa das Parfüm einer Frau, in die er verliebt war, in dem steigt die Sehnsucht nach dieser Frau auf oder vielmehr die Sehnsucht nach der Liebe, die er damals spürte. Jedoch: Weder die Liebe noch der Duft sind greifbar. Sie verweisen über das Sichtbare, Berührbare hinaus auf etwas, das

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