Buch Der Sehnsucht
ich nicht mehr greifen kann. Diese Sinneserfahrung weitet mein Herz und führt mich über das Konkrete hinaus. Der Rauch eines Feuers steigt zum Himmel empor. Wenn ich ihm nachblicke, ahne ich etwas von Weite und Unendlichkeit. Dann steigt in mir die Sehnsucht auf. Auch die biblischen Dichter kennen diese Erfahrung. Der Psalmist etwa betet: „Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf (Psalm 141,2). Der Weihrauch, der zum Himmel steigt, ist wie ein Gebet, das mich nach oben, zum Himmel zieht. Der Rauch wird zum Bild der Sehnsucht, die mich über diese Welt hinausführt. „Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken", schreibt Christian Morgenstern. Freilich spricht er dabei nicht von der Sehnsucht nach Gott, sondern von der Sehnsucht nach den Dingen. Was meint er wohl damit? Wenn ich eine Rose rieche, dann weckt ihr Duft in mir die Sehnsucht nach der Rose. Aber es ist nicht die Sehnsucht, die Rose zu besitzen, sie in der Hand zu halten oder gar zu zerreib en. Es ist vielmehr die Sehnsucht nach dem, wofür die Rose steht. Es ist die Sehnsucht nach Schönheit, nach Liebe, nach Reinheit, nach Vollkommenheit. Die Sehnsucht nach dem, dessen Duft wir riechen, möchte nicht das Ding besitzen, sondern nur erahnen, was darin an Verheißung steckt. Alles, was sich uns in der Natur darbietet, ist ein Symbol für etwas Geistiges. Nicht umsonst hat Jesus sein Wesen immer im Bild von „Dingen" ausgedrückt: „Ich bin der wahre Weinstock. Ich bin die Tür. Ich bin der gute Hirt. Ich bin das Brot des Lebens. Ich bin der Weg. Ich bin die Quelle." Der Duft, der den Dingen anhaftet, weckt in uns die Sehnsucht nach dem, was uns in allem aufscheint als Bild der Vollendung, als Bild des wahren Lebens.
EIN OFFENER HIMMEL
Der „Kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry bewundert die Sterne nicht nur. Er liebt sie. Denn er wird durch sie an die Rose erinnert, die er liebt. Diese Rose wächst auf dem Planeten, auf dem der Kleine Prinz zu Hause ist. Von der Erde aus kann er sie zwar nicht sehen. Aber die Sterne erinnern ihn an sie. Deshalb sind die Sterne für ihn schön: „Die Sterne sind schön, weil sie an eine Blume erinnern, die man nicht sieht." Weil sie auf seine Rose hinweisen, haben sie teil an ihrer Schönheit. Seit jeher bringen die Sterne die Menschen mit ihrer Sehnsucht in Berührung. In dem Internat, in dem ich als zehnjähriger Schüler lebte, erzählte uns der Schulleiter gelegentlich von der Zeit seiner Gefangenschaft in Afrika. Er stammte aus jener Generation, die im Krieg einschneidende Erfahrungen gemacht hatte. Wenn die Gefangenen in ihrem Lager zusammensaßen und sich von der Heimat erzählten, sang er ihnen gerne das Lied vor: „Heimat, deine Sterne". Das rührte diese hartgesottenen Soldaten zu Tränen. Die Sterne erinnerten sie daran, dass wir auf dieser Welt immer und überall daheim sind. Die Sterne, die sie am afrikanischen Himmel sahen, wurden auch von ihren Ehefrauen, von ihren Kindern, von ihren Freunden gesehen. Sie leuchteten auch über die ferne Heimat. So machte der Blick auf die Sterne die vermisste Heimat gegenwärtig. Manche mögen diese Melodie als sentimental empfinden. Aber wenn dieser gestandene Mann uns Kindern dieses Lied vorsang, ahnten auch wir etwas von dem Schmerz und der Lust, die sich mit dem Gefühl der fernen und doch nah herbeigewünschten Heimat verbinden kann. Heimat wird im Heimweh, in der Erfahrung des Verlustes, als der positive Ort imaginiert, wo man verstanden wurde und dazugehörte, als der Ort, an dem man gerne war; dorthin hofft man zurückzukehren; man sehnt sich danach, dort wieder leben zu können. Im emotionalen Pathos dieser Heimweh-Melodie, in dem Text, der die Trennung zu überwinden versuchte, klang es auf. Erlebte Vergangenheit und ersehnte Zukunft verbinden sich und werden eins.
Die Romantiker sprachen von der „Blauen Blume". Für den Dichter Novalis ist die blaue Blume ein Inbegriff der Liebe, der Sehnsucht und der Verklärung. Blau ist die Farbe des Himmels, Symbol der Unendlichkeit. Der blaue Himmel, der sich über uns weitet, erinnert uns an diese Unend lichkeit, die unser endliches Leben umfängt. Manchmal ist der Himmel über uns verhangen, von dunklen Wolken verhüllt. Da sehnen wir uns danach, dass er sich über uns öffnet. Diese Sehnsucht sagt auch etwas aus, über die Ausrichtung unseres Lebens. Über die Richtung, in die wir aufbrechen können - als Zielrichtung des größeren Heimwehs nach dem wahren
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