Buch Der Sehnsucht
Wünschen kommen wir mit den Fähigkeiten in Berührung, die in uns liegen. Wer sich mit dem Vorhandenen zufrieden gibt, der wird nie entdecken, wozu er fähig ist. Wünsche locken unsere Fähigkeiten hervor. Sie führen uns über die selbst gesteckten Grenzen hinaus und zeigen uns, wozu wir fähig sind.
„Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden" (Johann Wolfgang von Goethe).
WÜNSCHE, DIE VORHALTEN
Es gibt Wünsche, die in Erfüllung gehen. Wenn ich mir zum Geburtstag ein ganz konkretes Geschenk wünsche, werde ich es vermutlich auch bekommen. Rainer Maria Rilke war ein Dichter der menschlichen Seelenkräfte. Er hat viel über das Wünschen nachgedacht. In einem seiner schönsten Texte heißt es: „Wünschen, das soll man nicht aufgeben.
Ich glaube, es gibt keine Erfüllung, aber es gibt Wünsche, die so lange vorhalten, das ganze Leben lang, dass man ihre Erfüllung doch gar nicht abwarten könnte." Die Wünsche, die Rainer Maria Rilke meint, gehen weiter als unsere alltäglichen, anlassbezogenen Wünsche. Es sind Wünsche, die kein Geschenk zufrieden stellen kann. Es sind die Wünsche unserer Sehnsucht, die über diese Welt hinausgehen. Das deutsche Wort „Wunsch" gehört zur Wortgruppe „gewinnen", das im Althochdeutschen noch die Bedeutung hat: „durch Anstrengung, Arbeit oder Kampf zu etwas gelangen, schaffen, erringen, erlangen". Die Germanen waren offensichtlich überzeugt, dass ich mir meine Wünsche selbst erfüllen kann, dass es aber dafür der Anstrengung und des Kampfes bedarf. Die indogermanische Wurzel, die dem zugrunde liegt, verweist noch auf eine andere Spur: „umherziehen, streifen, nach etwas suchen oder trachten". Sie bezieht sich ursprünglich auf die Suche nach Nahrung. Doch die Suche nach Nahrung war für die Germanen offensichtlich ein Symbol für das Suchen der Seele. Man muss sich immer wieder auf den Weg machen, um weiterzusuchen. Man findet nie die Nahrung, die für das ganze Leben reicht. So müssen wir immer weiterwünschen. Kein Geschenk erfüllt alle unsere Wünsche. Kein Erfolg stellt uns endgültig zufrieden.
Rainer Maria Rilke fordert uns auf, das Wünschen nicht aufzugeben. Dabei kommt es ihm gerade auf die Spannung an, die einen nicht erfüllten - vielleicht sogar einen nicht erfüllbaren - Wunsch auszeichnet. Denn unsere Wünsche halten uns lebendig. Es gibt zwar Menschen, die wunschlos glücklich sind. Aber die Gefahr ist, dass sie sich vorschnell zufrieden geben mit dem, was sie erreicht haben. Wünsche, deren Erfüllung man gar nicht abwarten kann, gehen über das Vordergründige hinaus. Sie zielen auf das wahre Glück, das wir nicht in diesem Leben, sondern erst in der Vollendung erfahren.
UNMÖGLICHES WIRD MÖGLICH
Dichter und Humoristen sehen die Wirklichkeit anders. Sie zeigen die Wahrheit im Paradox: „Du siehst Dinge - und fragst: Warum? Ich dagegen sehe Dinge, die nie wirklich waren, und ich frage: Warum nicht?" In diesem Satz des großen Satirikers und Menschenkenners George Bernard Shaw wird die Kraft der Phantasie deutlich. Shaw legt die Wirklichkeit schaffende Macht der Träume, ja die Utopie, in unsere Macht. Es ist schon viel, die Dinge nicht einfach so hinzunehmen, wie sie sind, sondern danach zu fragen, warum sie so sind. Das Fragen lässt mich die Dinge besser verstehen. Doch G. B. Shaw ist Dichter. Er sieht Dinge, die nie wirklich waren. In seiner Dichtung bildet er nicht nur die Wirklichkeit ab, so wie sie ist. Er schafft vielmehr eine eigene Welt. Und wenn Kritiker diese Welt in Frage stellen, fragt er zurück: Warum nicht? Warum sollte nur die Welt existieren, die wir sehen? Warum sollten nicht auch unsere Phantasien wirklich sein? Warum sollte unsere Sehnsucht nicht die gleiche Realität haben wie unser Ärger und unsere Traurigkeit? Wer es wagt, Dinge zu sehen, die er nicht in der Wirklichkeit antrifft, der verändert die Welt. Die Phantasie, die das Unmögliche erträumt, bereitet den Weg dafür, dass das Unmögliche möglich wird. Was wir uns ausdenken, sind nicht bloße Hirngespinste. In den Bildern, die unser Verstand formt, erahnen wir eine Welt, die zwar noch nicht existiert, dennoch aber Wirklichkeit werden kann. Die Bilder, die in uns entstehen, sind wirklich, auch wenn sie noch nicht greifbar sind. Bilder verändern die Welt.
DEM UNSICHTBAREN NÄHER
In der romantischen Dichtung Friedrich von Hardenbergs leuchtet uns überall
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