Buch Der Sehnsucht
fällt. Denn sie sind auch in unserer Überflussgesellschaft gar nicht so selten: die Menschen, die scheinbar alles haben und doch unzufrieden sind. Es ist eine Ursehnsucht im Menschen, dass es doch mehr geben muss als all das, was uns ins Auge springt, was wir uns kaufen können, womit uns Freunde beschenken. Die Sehnsucht geht über das alles hinaus, auf das Absolute und Vollkommene. Letztlich zielt die Sehnsucht auf Gott. Diese Ursehnsucht war in der Gnosis lebendig. In den ersten Jahrhunderten nach Christus gab es eine weit verbreitete Strömung der Gnosis, die der frühen Kirche zu schaffen machte, weil sie gerade die spirituell suchenden Menschen ansprach. Die Gnosis sehnte sich nach Erleuchtung, nach Einswerden mit Gott, nach Bewusstseinserweiterung, nach wahrer Freiheit. Unsere Zeit gleicht der Zeit der Gnosis. Heute sprechen wir von Esoterik, von New Age, von der Sehnsucht, das innerste Geheimnis der Welt zu verstehen, von einem ganz neuen Zeitalter, in dem wir uns weiterentwickeln, in Frieden leben miteinander und mit der Schöpfung, in dem wir offen sind für das Göttliche. Man kann die Antworten, die die Esoterik auf die Sehnsucht des Menschen gibt, kritisieren. Die Sehnsucht jedoch, die vielen suchenden Menschen die Esoterik so anziehend macht, darf man nicht in Frage stellen. Sie ist echt. Und sie braucht eine Antwort. Im ersten Jahrhundert nach Christus hat Johannes in seinem Evangelium versucht, eine Antwort auf die Sehns ucht der Gnosis zu geben. Er hat die tiefe Spiritualität, die sich in der Gnosis ausdrückte, ernst genommen und sie in seiner Botschaft von Jesus an ihr eigentliches Ziel geführt. In Christus ist Gott sichtbar geworden. In ihm geht uns das wahre Licht auf, da erfahren wir Erleuchtung. Er ist das wahre Leben, nach dem wir uns sehnen. Er ist die Wahrheit. Er zieht den Schleier weg, der alles verhüllt. Er öffnet uns die Augen für das Eigentliche, für das, was hinter dem Schein liegt. Und er führt uns in die Einheit mit Gott, die letztlich das Ziel all unserer Sehnsüchte ist.
INS INNERSTE MEINES HAUSES
Die Grundfrage ist immer wieder: Wie können wir mit unserer Sehnsucht in Berührung kommen? Der eine Weg geht darüber, unser Leben anzuschauen und hinter allem die Sehnsucht zu entdecken, die in unseren Begierden, Süchten, Leidenschaften, Bedürfnissen, Wünschen, Hoffnungen steckt. Alles, was wir erleben, zu Ende zu denken, ihm auf den Grund zu gehen, ist die eine Möglichkeit. Der andere Weg ist ein spiritueller, er geht über das Gebet. Augustinus sieht die Aufgabe des Gebets darin, unsere Sehnsucht anzustacheln. Wenn wir im Vaterunser beten: „Dein Reiche komme zu uns", so brauchen wir nicht - sagt Augustinus - Gott anzuflehen, dass er endlich sein Reich kommen lasse, sondern wir stacheln in uns die Sehnsucht nach diesem Reich an. Die Psalmen sind für Augustinus Lieder der Sehnsucht. Indem wir sie singen, wächst in uns die Sehnsucht nach der wahren Heimat in Gott. Augustinus vergleicht das Psalmensingen mit dem Singen von Wanderern. Zur Zeit des Augustinus wanderte man bei Nacht, um der Gefährdung durch Räuber zu entgehen. Aber dafür stieg im Dunkeln die Angst in den Wanderern hoch. Um sich die Angst zu vertreiben, sangen sie ihre Heimatlieder. So singen wir hier in der Fremde die Liebeslieder unseres Vaterlandes, um in uns die Angst vor der Dunkelheit zu überwinden und die Sehnsucht nach Gott anzustacheln. Die Höchstform des Betens ist für Augustinus das Singen. Darüber hat er eine eigene Theologie entwickelt. „Cantare amantis est -Singen ist Sache des Liebenden". Singen kann nur, wer liebt. Das Singen führt den Menschen nach innen, in das „Intimum domus meae - in das Innerste meines Hauses". Auch wer dem Singen der Geigen und Celli zuhört, kann durch die Musik in den inneren Raum gelangen, in dem er bei sich daheim ist und ganz wird und heil. Wer in diesem inneren Raum bei sich selbst angekommen ist, wer hier daheim ist, der wird keine Sucht mehr brauchen, die die Heimat des Paradieses außerhalb seiner selbst sucht. Der spürt in sich etwas, das diese Welt übersteigt, das ihn mitten im Gewoge dieser Welt wohnen lässt. Wenn ich im Gebet mit meiner Sehnsucht in Berührung komme, kann ich meine Unfreiheit überwinden. Manche fromme Christen beten zu Gott, dass er sie von ihrer Sucht befreie. Sie benutzen ihn, damit er ihnen möglichst schmerzfrei weiterhelfen soll, und verbleiben in ihrer Passivität. Gott soll ihre große Mutter
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