Buch Der Sehnsucht
Deine ununterbrochene Sehnsucht ist deine ununterbrochene (Gebets-)Stimme."
Nicht umsonst wird Augustinus als Kirchenlehrer mit einem Herzen dargestellt, das von einem Pfeil durchbohrt wird. Diese Darstellung geht auf seine eigenen Worte in den „Bekenntnissen" zurück: „Du hast unser Herz mit deiner Liebe getroffen, und wie Pfeile, die im Herzen haften, tragen wir deine Worte in uns." Das Wort Gottes, das er auslegt, ist nicht etwas Äußeres, über das er objektiv reflektieren könnte. Ins Herz von Gottes Liebe getroffen, spricht er von ihm aus diesem verwundeten Herzen: nicht mit einem kühlen Verstand, sondern in der Sprache der Liebe. Daher die Schönheit seiner Sprache, denn sie antwortet auf die Schönheit der göttlichen Liebe. Auch heute gilt: nur eine religiöse Sprache, die selbst brennt, die den Sinn für das Schöne, den Sinn für das Zärtliche, den Sinn für die Liebe ausstrahlt, kann selbst ausstrahlen und die Menschen erreichen. Nur aus dem verwundeten Herzen, nur aus der Sehnsucht entsteht Neues. Indem wir die Lieder der Sehnsucht singen, wächst in uns die Sehnsucht nach dem, den wir besingen, nach dem, der uns wahre Ruhe, Heimat und Geborgenheit schenkt.
WARTEN WEITET DAS HERZ
Selbst etwas so Alltägliches wie das Warten kann zur spirituellen Haltung werden. Das deutsche Wort „warten" meint eigentlich, auf der „Warte" wohnen. „Warte" ist der Ort der Ausschau, der Wachtturm. Warten meint also: Ausschau halten, ob jemand kommt, umherschauen, was alles auf uns zukommt. Warten kann aber auch heißen: auf etwas Acht haben, etwas pflegen, so wie der „Wärter" auf einen Menschen aufpaßt und auf ihn Acht gibt. Warten bewirkt beides in uns: die Weite des Blickes und die Achtsamkeit auf den Augenblick, auf das, was wir gerade erleben, auf die Menschen, mit denen wir gerade sprechen. Warten macht das Herz weit. Wenn ich warte, spüre ich, dass ich mir selbst nicht genug bin. Jeder von uns kennt das, wenn er auf einen Freund oder eine Freundin wartet. Er blickt jede Minute auf die Uhr, ob es noch nicht Zeit für ihr Kommen ist. Er ist gespannt auf den Augenblick, da der Freund oder die Freundin aus dem Zug aussteigt oder an der Haus türe klingelt. Und wie enttäuscht sind wir, wenn statt des Freundes jemand anders an der Haustüre steht. Warten erzeugt in uns eine Spannung. Wir spüren, dass wir uns selbst nicht genug sind. Im Warten strecken wir uns aus nach dem, der unser Herz berührt, der es höher schlagen läßt, der unsere Sehnsucht erfüllt. Heute können viele nicht mehr warten. In der Adventszeit erleben wir es: Für viele wird Advent nicht als Zeit des Wartens erfahren, sondern als vorweggenommenes Weihnachten. Manche feiern ständig Weihnachten, anstatt Ausschau zu halten und das Herz im Warten auszustrecken nach dem Geheimnis von Weihnachten. Kinder können nicht warten, bis die Mutter das Tischgebet gesproche n hat. Sie müssen sofort essen, wenn etwas auf dem Tisch steht. Sie warten nicht, bis die Schokolade in den Einkaufskorb verstaut ist. Sie müssen sie schon essen, bevor sie noch an der Kasse des Supermarktes bezahlt ist. Die Leute vor der Kasse oder vor dem Fahrkartenschalter können nicht warten. Sie drängeln sich vor. Dabei geht es um etwas Wichtiges: Wer nicht warten kann, der wird nie ein starkes Ich entwickeln. Er wird jedes Bedürfnis sofort befriedigen müssen. Aber dann wird er völlig abhängig von jedem Bedürfnis. Warten macht uns innerlich frei. Wenn wir warten können, bis unser Bedürfnis erfüllt wird, dann halten wir auch die Spannung aus, die das Warten in uns erzeugt. Das macht unser Herz weit. Und es schenkt uns überdies das Gefühl, dass unser Leben nicht banal ist. Wir sehen dies, wenn wir auf etwas Geheimnisvolles warten, dann warten wir auf die Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht. Dann erkennen wir: Wir sind mehr als das, was wir uns selbst geben können. Warten zeigt uns, dass das Eigentliche uns geschenkt werden muß. Warten erzeugt im Menschen eine gesunde Spannung. Wer wartet, schlägt nicht die Zeit vor Langeweile tot. Er ist auf ein Ziel hin ausgerichtet. Im Warten der Kinder auf Weihnachten zeigt sich das ganz deutlich: Das Ziel des Wartens ist ein Fest. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir als Kinder am Heiligabend gewartet haben auf das Christkind, auf die Bescherung. Es war eine eigenartige Spannung. Wir gingen mit dem Vater durch die Dunkelheit spazieren, sahen in den Häusern überall Lichter brennen. Und dann
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