Buch Der Sehnsucht
nicht säkularisieren, wenn man sie nicht aufgeben will." Sie braucht das Sperrige, weil gerade das in dieser Gesellschaft die Sehnsucht nach dem ganz Anderen wach hält. Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen ist nicht eine Flucht vor der Wirklichkeit. Für Horkheimer ist sie vielmehr „die Sehnsucht nach vo llendeter Gerechtigkeit. Diese kann in der säkularen Gesellschaft niemals verwirklicht werden." Die Religion als Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit ist also ein Stachel, sich für diese Welt einzusetzen. Aber zugleich kritisiert sie jeden Versuch, absolute Gerechtigkeit hier schon verwirklichen zu wollen. Für Horkheimer gibt es keine Liebe ohne Sehnsucht. Die Sehnsucht hält die Liebe lebendig. „Liebe gründet in der Sehnsucht, in der Sehnsucht nach der geliebten Person. Sie ist nicht frei vom Geschlechtlichen. Je größer die Sehnsucht nach Vereinigung mit dem geliebten Menschen ist, umso größer ist die Liebe." Sein Verständnis von Liebe drängt Horkheimer dazu, die umstrittene Pillenenzyklika von Papst Paul VI. zu verteidigen. Damit stieß der große alte Philosoph seine studentischen Anhänger völlig vor den Kopf. Doch er sieht seine Pflicht als kritischer Philosoph darin, „den Menschen klarzumachen, dass wir für diesen Fortschritt einen Preis bezahlen müssen und dieser Preis ist die Beschleunigung des Verlustes der Sehnsucht, letztlich der Tod der Liebe." Ohne Sehnsucht - so seine Überzeugung - „verliert die Liebe ihre Basis". Religion hat die Aufgabe, die Sehnsucht nach dem ganz Anderen wach zu halten. Das hat gesellschaftliche Auswirkungen - und es hat Folgen für das persönliche Leben. Die manchmal so altmodisch erscheinende Religion darf sich nicht völlig dem Zeitgeist anpassen. Sonst verliert sie ihre kritische Funktion. Die Religion darf nicht so tun, als wisse sie Bescheid, wer Gott ist. Sie muss vielmehr die Unsichtbarkeit und Unbegreiflichkeit Gottes in dieser Welt bezeugen und die Menschen in ihrer Sehnsucht ansprechen. Horkheimer wehrt sich dagegen, diese Sehnsucht nach dem ganz Anderen und die Sehnsucht nach Ewigkeit zu verweltlichen. Denn das würde das Ende der Religion bedeuten.
Diese Gedanken formulieren im Grunde, was auch große christliche Denker im Blick auf die Sehnsucht sagen: Sehnsucht ist etwas, über das diese Welt nicht verfügen kann. Sie kann von der Gesellschaft nicht vereinnahmt werden. Denn sie geht über diese Welt hinaus. Die Sehnsucht muss transzendent sein und diese Welt übersteigen. Sie muss ihre Heimat im ganz Anderen haben. Aber gerade indem ich mit dieser Sehnsucht nach vollendeter Liebe, vollendeter Gerechtigkeit, absoluter Heimat in Berührung bin, kann ich in dieser Welt leben, ohne mich von ihr bestimmen zu lassen. Ich bewahre die kritische Distanz zur Welt, die es mir ermöglicht, mich für diese Welt einzusetzen und an der Verbesserung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse mitzuarbeiten. Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen ist der Stachel, politische Ideologien zu entlarven und Verabsolutierungen von Ideen zu demaskieren. Zugleich ist sie der Stachel, über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft hinauszuscha uen und so diese Welt menschlicher zu gestalten. Die Sehnsucht also braucht in dieser Welt gerade Räume, die der Welt entzogen sind, damit sie Kraft genug bekommt, in die Welt hineinzuwirken. Sie muss aus der Welt ausziehen und sich im Raum des Religiösen, im Kult, in den Ritualen, in der Erfüllung der Gebote immer wieder ihrer selbst bewusst werden. Nur dann wird sie diese Welt aufbrechen für das Nicht-Darstellbare, für die Utopie, für das Noch-Nicht, von dem der andere jüdische Philosoph, Ernst Bloch, immer wieder geschrieben hat.
DAS SEHNSUCHTSGEBET
Gott selbst können wir nicht direkt erfahren. Aber in der Sehnsucht spüren wir ihn in unserem Herzen. Der spirituelle Weg besteht für die christliche Tradition daher geradezu ausdrücklich darin, dass wir mit unserer Sehnsucht in Berührung kommen. Sie ist - nach Augustinus - wie ein Anker, den Gott in unsere Seele geworfen, mit der er sich geradezu sprichwörtlich in unserem Innersten „verankert" hat.
Viele Menschen leiden heute darunter, dass sie nicht mehr beten können. Sie zweifeln daran, dass Gott ihr Gebet hört und auf ihr Gebet hin handelt. Wenn sie mir ihre Zweifel an der Wirksamkeit des Gebetes erzählen, dann versuche ich nicht, ihnen zu beweisen, dass das Gebet schon oft geholfen hat. Und ich verzichte auf theologische
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