Buch Der Sehnsucht
mußten wir oben in den Schlafzimmern warten, bis die Weihnachtsglocke läutete. Es war ein geheimnisvolles Erleben, in das nur mit Kerzen beleuchtete Wohnzimmer zu gehen. Kindliche Situationen prägen sich tief in die Seele ein. Wir fühlen uns auch später immer dann daheim, wenn diese Gefühle von früher wieder angesprochen werden. Vermutlich ist bei jedem Warten eine Spur des weihnachtlichen Wartens dabei, die Ahnung, dass unser Leben durch das Kommen eines Menschen oder eines Ereignisses heller und heiler wird.
UNTERWEGS ALS PILGER
Als ich einmal mit einem Bus voller Pilger nach Jerusalem fuhr, betete der Pilgerführer den Wallfahrtspsalm 122: „Wie freute ich mich, als man mir sagte: „Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern. " Da ahnte ich, mit welchen Gefühlen die frommen jüdischen Pilger sich der heiligen Stadt Jerusalem näherten, um dort im Tempel zu beten und Heil zu erfahren. Ich las den Psalm 84 ganz neu: „Meine Seele verzehrt sich in Sehnsucht nach dem Tempel des Herrn. Mein Herz und mein Leib jauchzen ihm zu, ihm, dem lebendigen Gott." Die jährliche Wallfahrt nach Jerusalem war mehr als eine fromme Pflicht. In den Herzen der Israeliten brannte eine tiefe Sehnsucht, Gottes heilende und liebende Nähe im Tempel zu erfahren. Natürlich wussten die Juden, dass sie Gott überall anbeten konnten. Doch der Tempel war der besondere Ort der Gegenwart Gottes. Mit diesem heiligen Ort verbanden sie alle Wundertaten, die der Heilige an seinem Volk gewirkt hatte. Hier hörten sie seine Weisung, sangen ihm Lob, durften sie an der feierlichen Liturgie teilnehmen. Der Psalmist spricht nicht nur von der Seele, die sich in Sehnsucht nach dem Tempel des Herrn verzehrt. Nein, der ganze Leib sehnt sich nach ihm. Es ist keine schmerzliche Sehnsucht, sondern eine Sehnsucht, die Herz und Leib vor Freude jauchzen lässt. Es ist eine kraftvolle Sehnsucht, die den Pilger aufrichtet und ihn mit neuer Kraft erfüllt, die ihm Anteil schenkt an dem lebendigen und Leben schaffenden Gott.
ZEIT DER ERWARTUNG
Warum rühren uns viele Lieder und Texte, die im Advent gesungen werden, so tief an? Advent ist die Zeit, in der ein tiefes Verlangen nach dem, was unser Herz zutiefst erfüllen und befriedigen kann, im Rhythmus des Kirchenjahres seinen Ausdruck findet. Diese Sehnsucht, die sich in den Liedern dieser Zeit ausdrückt, hat immer mit Liebe zu tun. Unser Verlangen danach ist eine Grundbefindlichkeit. Sie weist über das Alltägliche und Banale hinaus und zielt auf Heimat und Geborgenheit, auf das verlorene Paradies. Das ist weder ungesund noch ein Ausdruck von Unreife oder Regression. Es zeigt vielmehr, dass wir uns nur dann dem Kampf des Lebens stellen können, wenn wir in uns selbst daheim sind und wenn wir wahrnehmen, dass Gott als das Geheimnis der Liebe in uns wohnt. Wenn ich in diesem Wissen mit meiner Sehnsucht bewusst in Berührung komme, dann kann ich mich aussöhnen mit der Durchschnittlichkeit meines Lebens. Dann kann ich mich verabschieden von Illusionen, die ich mir von meinem Leben gemacht habe. Dann komme ich in Berührung mit etwas jenseits der Welt, mit etwas, über das die Welt keine Macht hat. Das ermöglicht mir auch eine vorurteilslose Offenheit ändern gegenüber. So kann ich die Begegnung und die Beziehung genießen, ohne ständig mehr haben zu wollen. In einer solchen Erfahrung der Sehnsucht steckt zudem eine Kraft, die uns befähigt, Utopien ganz konkret anzugehen. Diese Sehnsucht hat die Menschen des Mittelalters dazu angetrieben, hohe Dome zu bauen. Diese Baukunst lebte von der Sehnsucht, dem Göttlichen einen Raum zu schaffen. Die Musik lebt von der Sehnsucht. Sie öffnet ein Fenster zum Himmel. Jede Kunst ist letztlich Vorschein des Ewigen, noch nie Dagewesenen, Ausdruck der Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Sehnsucht hat die Kraft, Beton zu sprengen, den Panzer zu knacken, den wir um uns aufgebaut haben, um unempfindlich zu sein gegenüber der anderen Welt. Sehnsucht öffnet unsere enge Welt. Sie hält den Horizont über uns offen. Die Sehnsucht verschließt sich nicht den erschreckenden Tatsachen des Lebens. Sie setzt uns auf die Spur der Hoffnung, die uns der Realität ins Auge sehen läßt, ohne daran zu verzweifeln.
GEERDET
Zu Weihnachten erhielt ich den Brief eines Bekannten, der über seinen Text ein Gedicht der jüdischen Dichterin Hilde Domin gesetzt hatte: „Sehnsucht". „Die Sehnsucht / Lässt die Erde durch die Finger / Rinnen / Alle Erde dieser Erde / Boden suchend /
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