Buch Der Sehnsucht
sein, die all ihre Probleme löst. Auf diese Weise werden sie allerdings nie frei von ihrer Sucht. Sie bleiben Kinder, die alles von der Mutter erwarten. Frei zu werden gelingt nur, wenn wir in einem ersten Schritt im Gebet Gott unsere Sucht hinhalten und in der Sucht unsere tiefste Sehnsucht. Der zweite Schritt des Gebetes besteht darin, mit unserer Sehnsucht in Berührung zu kommen und sie betend anzustacheln. Der dritte Schritt des Betens wäre dann, im Gebet den inneren Raum der Stille zu entdecken, in dem Gott in uns wohnt. Dort, wo Gott in uns wohnt, sind wir ganz wir selbst. Dort kommen wir in Berührung mit unserem wahren Ich. Und dort können wir bei uns wohnen, können bei uns daheim sein.
MANGELERFAHRUNG
Ohne Sehnsucht gibt es keine Religion, gibt es keinen Glauben, keine Spiritualität. Diese scheinbar apodiktische Feststellung geht aus von der Erfahrung eines Negativen, eines Mangels. Dorothee Solle hat dies einmal so formuliert: „Da der umfassende Sinn des Lebens nicht sichtbar oder feststellbar ist (es sei denn für tränenlose Augen), entsteht das religiöse Bedürfnis immer wieder am Mangel, am Fehlen von Vergewisserung; Zweifel und unerfüllte Sehnsucht begleiten die religiöse Erfahrung. Dieser Schmerz kann nur um den Preis der Religiosität selbst vermieden werden." Für die Theologin Dorothee Solle gehört die unerfüllte Sehnsucht also wesentlich zur Religiosität: In der Religion binde ich mich an Gott. Doch der ist nicht etwas Beschränktes, wie etwa das Gesetz oder die moralische Verpflichtung. Er übersteigt alles Denken und Verstehen. Und so binde ich mich in der Religion an etwas, was ich nicht zu fa ssen vermag, was mich über mein Erkennen hinausführt in eine Welt jenseits des Sichtbaren und Begreifbaren. Religion hat immer - zumindest auch - mit der Mangelerfahrung zu tun. Der Mensch erfährt sich als mangelhaft. Er ist nicht Gott. Er kann über sich nicht verfügen. Die Gesundheit liegt allein in seiner Hand. Er kann die Dauer seines Lebens nicht bestimmen. Ja, auch sein Glück kann er nicht selbst machen. Er fühlt sich angewiesen auf einen Größeren, auf den Grund allen Lebens, den Grund allen Glücks.
Für viele Menschen stellt es eine narzisstische Kränkung dar, dass sie von einem anderen abhängig sind, den sie nicht manipulieren und über den sie nicht verfügen können. Doch nur wenn der Mensch sich diesen Mangel eingesteht, versteht er, was Religion, was Glaube, was Spiritualität will. Manchmal darf der Mensch Gott erfahren. Er fühlt sich eins mit ihm und eins mit sich selbst. Dann kann er mit Teresa von Ávila ausrufen: „Gott allein genügt." Doch schon im nächsten Augenblick fühlt sich der Mensch wieder zerrissen und von Gott getrennt. Er spürt seinen Mangel. Dann bleibt ihm nur die Sehnsucht nach dieser Erfahrung des Einswerdens und der Erfüllung. Ohne Sehnsucht gibt es keine wirklich religiöse Erfahrung. Denn Gott ist immer der ganz Andere und der jeweils Größere. Jede Gotteserfahrung weckt in uns die Sehnsucht, ganz mit dieser geheimnisvollen Wirklichkeit eins zu werden und in ihr die Fülle des Lebens zu erfahren.
DIE SPUR DES EWIGEN
„All mein Sehnen, Herr, liegt offen vor dir, mein Seufzen ist dir nicht verborgen", sagt der Psalmist (Psalm 38,10). Sehnen und Seufzen bilden für ihn eine Einheit. Sehnsucht ist für ihn mit Schmerz verbunden. Das Leid, das er an sich erfährt, stärkt sein Sehnen. Einen Vers zuvor betet er: „Kraftlos bin ich und ganz zerschlagen, ich schreie in der Qual meines Herzens" (Psalm 38,9). Weil er an sich leidet, spürt er das Verlangen nach Gott. Er sehnt sich mit seinem kranken Leib danach, gesund zu werden. Er sehnt sich danach, dass Gott ihm hilft, dass er sich ihm wieder zeigt, barmherzig und gnädig. In seiner Krankheit hat er ihn als einen grimmigen Gott erfahren, der ihn mit seinen Krankheitspfeilen trifft. Er möge sich doch seiner erbarmen und ihn wieder aufrichten. Das ist seine tiefste Sehnsucht. Augustinus hat diesen Vers zum Anlass genommen, die Beziehung zwischen Gebet und Sehnsucht zu bedenken und im Sehnen selbst schon das Beten zu erkennen. Und er spricht dann vom unablässigen Gebet, nach dem sich die frühe Kirche so sehr sehnte: „Es gibt ein anderes inneres Gebet ohne Unterlass, nämlich die Sehnsucht. Was tust du anderes, wenn du jenen Sabbat (das Reich Gottes) ersehnst, als dass du nicht aufhörst zu beten? Wenn du das Beten nicht unterbrechen willst, dann unterbrich nicht das Sehnen.
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