Buch Der Sehnsucht
scheinen. In solch finsterer Nacht sehnen wir uns nach dem Licht. Alles in uns - unsere Seele, unser Leib und unser Geist - ist von Sehnsucht erfüllt. Wir sind Sehnsucht. Und allein diese Sehnsucht lässt uns hoffen, dass wir das Licht der Sonne wiedersehen werden. Allein die Sehnsucht hält uns noch am Leben.
NACHT DER SINNE
Als ich begann, die Geschichten und Sprüche der frühchristlichen Wüstenväter aus psychoanalytischer Perspektive zu lesen, habe ich viel von der Psychologie der Nacht verstanden. Vie le von diesen Mönchen, die in der Wüste lebten, bekamen nicht viel Schlaf. Sie strebten sogar danach, gar nicht zu schlafen, um mit Christus wachen zu können. Die Nacht war für sie der Ort, an dem sie wie in der Wüste gegen ihre Dämonen kämpften. Sie glaubten, sie könnten Licht in die Welt bringen, indem sie sich freiwillig in die Wüste und in die Finsternis begaben. Mehrere Apophthegmata, also überlieferte Worte der Wüstenväter, berichten übrigens, dass Antonius, Poimen oder andere Eremiten von einem Lichtschein umgeben waren. Während sie beteten, waren sie so sehr von der Gegenwart Christi erleuchtet, dass ihre Finger zu Flammen wurden. Die Nacht ist auch die Zeit der Träume. Und Gott spricht Menschen im Traum an. In der Nacht brechen all unsere üblichen Gottesvorstellungen zusammen. Sie werden geläutert. Wir werden in solcher Erfahrung dazu aufgefordert, uns von unserer Vorstellung von einem nahen Gott zu verabschieden, der immer bereit ist uns zu erhören, und den wir uns egoistisch angeeignet haben. Natürlich ist es hilfreich, ein Bild von Gott zu haben. Wir müssen allerdings lernen, dass seine Wirklichkeit jenseits aller Bilder ist. Dass Gott der Andere, der nicht Darstellbare ist, kann selbst eben nicht mehr dargestellt werden. Das ist in gewisser Weise die Erfahrung, die die mystische Literatur unter dem Begriff „Nacht der Sinne" versteht. Dieser Begriff bedeutet: Auch wenn der Glaube keine Sinneserfahrung der Gegenwart Gottes mehr anbietet, auch wenn der Gläubige trocken, kalt bleibt, hindert ihn das nicht daran, weiterzubeten, in der Hoffnung, dass die Sinneserfahrung wiederkehrt. Er glaubt fest daran, dass Gott auch in dieser geistlichen Wüste zu finden ist.
DURCH TROCKENE WÜSTE
„Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich paaren, da ist Mystik." Als ich die sen Satz aus den hinterlassenen Schriften Friedrich Nietzsches las, war ich eigenartig berührt. Nietzsche war mir vor allem als der Philosoph begegnet, der vom Tode Gottes kündet und den heraufkommenden Übermenschen verkündet. Ich wusste nicht sofort, wie ich diesen Satz verstehen sollte. Ob ich ihn heute richtig verstehe, weiß ich nicht. Aber es reizte mich, in seinen Sinn einzudringen. Nietzsche hat offensichtlich beides erlebt. Er war nicht zufrieden mit der christlichen Botschaft, wie er sie von seinem Vater, dem protestantischen Pfarrer, gehört hatte. Sie war für ihn eine Religion der Schwachen, die die Vitalität des Menschen unterdrückte. Er sehnte sich nach vollem Leben, das er in seiner Krankheit gar nicht selbst erfahren konnte. Er litt an der Verzweiflung über sich und diese Welt, über die Verfälschung von Religion, wie sie ihm die christliche Botschaft zu sein schien. Er sehnte sich nach Kraft, Vitalität, Lebenslust und Freiheit. Auch wenn wir heute eher seine religionskritischen Aussagen kennen, klingt in vielen seiner Worte etwas von der Mystik an, die ihn getrieben hat, immer weiterzusuchen nach dem Geheimnis des Lebens.
Mystik ist für mich der Weg der Gotteserfahrung. Den Mystikern genügt es nicht, von Gott nur zu hören oder über ihn zu reden. Sie wollen ihn spüren, tasten, erfahren. Sie wollen mit ihm eins werden in der Ekstase der Liebe. Die ekstatische Sprache Nietzsches wird von diesem mystischen Schwung getragen. Er möchte das Leben erfahren und auskosten. Er setzt den griechischen Gott Dionysos an die Stelle Christi. Damit zeigt er, dass die Erfahrung des Lebens für ihn etwas Religiöses hat. Sie ist Ekstase, Rausch der Liebe. Dem Christentumskritiker Nietzsche ist es entgangen, dass die frühen Kirchenväter Christus durchaus mit Dionysos zu verbinden suchten. Auch Orpheus, der große Sänger, der ebenfalls dem dionysischen Bereich zugehörte, wurde mit Christus verglichen. Denn Christus wurde als der göttliche Sänger verstanden, der die Herzen der Menschen anrührte und sie zur Liebe entflammte. Die christlichen Mystiker sprechen freilich nicht nur vom Finden Gottes,
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