Buch des Flüsterns

Noradunghian mehr Glück beschieden: Sie wurde nie gegründet. Was jedoch nicht heißt, dass die Karten nicht weiterhin ihre farbigen Weiten vorgezeigt hätten und Noradunghian nicht darin fortgefahren wäre, einsam und stur, sein Projekt zu befördern, selbst nach der Ankunft der Russen noch und der Einführung des Kommunismus. Während die Leute um ihn herum bestrebt waren, sich in Sicherheit zu bringen, und über die Grenzen flohen, klopfte Noradunghian an die Türen der Militärmissionen und fremden Vertretungen und stellte die Unterstützung der Freimaurer für einen neuen Krieg gegen den Bolschewismus in Aussicht.
    Dann geschahen zwei Dinge, die Noradunghians Projekt endgültig in die Welt der Landkarten verwiesen. Als Erstes traf die Antwort der amerikanischen Gesandtschaft ein: »Vorerst kann man nichts tun, denn Rumänien ist aufgrund der Absprachen zwischen den Großmächten in den Einflussbereich der Sowjetunion übergegangen.« Diese Antwort seitens der Macht, die zuvörderst das Projekt hätte unterstützen sollen, erschütterte Noradunghian. Er gab dies auch nicht an die weiter, die seine Karten betrachten kamen. Dabei hatte er nicht gemerkt, dass für sie die Antwort der Amerikaner oder die Verwirklichung der Union nicht so ausschlaggebend wichtig war, für sie zählte die Illusion mehr als die Wirklichkeit, mehr als die Welt mit ihren Vertragswerken und Grenzen zählten für sie die Karten, und wenn die Welt nicht dahin gelangt wäre, jenen Karten zu gleichen, hätten sie sich wahrscheinlich andere Karten vorgestellt.
    Micael Noradunghian hatte zu seinem Glück nicht sehr viel Zeit, sich seinem Leiden hinzugeben, denn sehr bald schon erreichte ihn auch das zweite Unheil. Übrigens eingehüllt in meisterlich gedrechselte Worte, als kämen sie von jemandem, der helfen wollte. Ins Außenministerium geladen, sagte Ana Pauker 22 zu ihm, es gebe überhaupt keinen Vorbehalt gegen funktionierende Freimaurerlogen. Im Gegenteil; um ihm zu beweisen, welcher Wertschätzung sich die Logen erfreuten, wurde ihm eine Liste mit den Namen der wichtigsten Personen innerhalb der Kommunistischen Partei überreicht, die in die Loge aufgenommen werden sollten. Auch wenn ihre Diskussion äußerst höflich und in einem von Ana Pauker und Micael Noradunghian gequälten und verdorbenen Rumänisch verlief, jeder sich gemäß der Gewohnheiten und im Akzent der fremden Herkunft, die ihm eigen waren, ausdrückte, verstand Noradunghian, dass die Kommunistische Partei der Freimaurerei die Schlinge um den Hals legen und sie für ihre Zwecke benutzen wollte, vor allem in den äußeren Angelegenheiten. Weshalb er sich mit armenischer Voraussicht und der Weisheit seiner fünfundsiebzig Jahre von diesem Vorschlag als ganz besonders angetan zeigte, nicht so jedoch, dass es schmeichlerisch gewirkt hätte, aber immerhin ausreichend überzeugend, um nicht hochgenommen zu werden und in Handschellen die Unterredung zu verlassen. Ja, er hatte sogar eingewilligt, eine Freimaurerloge speziell für die rumänische Arbeiterschaft zu gründen. Die Freude, die er Ana Pauker gegenüber zum Ausdruck brachte, war so ehrlich, dass er sogleich, als er zuhause eingetroffen war, alle seine Brüder vom 33. Grad zu sich einlud und den Beschluss herbeiführte, die rumänische Freimaurerei einschlafen zu lassen.
    Dann, während die Leute der Securitate die Archive zu suchen begannen und die Verhaftung aller Autoren jener freimaurerischen und politischen Utopie der Vereinigten Staaten von Europa vorbereiteten, wählte Noradunghian für sich den Weg, der ihm bei seinem ehrwürdigen Alter am ehesten zuhanden war. Er wurde bettlägerig, und alle, die ihn in diesen Jahren aus Mitgefühl oder in der Absicht besuchten, ihn hinsichtlich der Archive auszuhorchen, kamen darin überein, der Alte liege im Sterben.
    Von all jenen, die sich an seinem Lager die Klinke in die Hand gaben, hatte Noradunghian nur einen auch bestellt, und zwar Levon Zohrab. Ihm überreichte er die sehr sorgfältig in Sackleinen eingewickelten Karten. Und Levon Zohrab beschloss infolge einiger Umstände, die uns das
Buch des Flüsterns
beschreibt, sie an Sahag Șeitanian weiterzugeben, den Neffen meines Großvaters väterlicherseits, Garabet Vosganian.
    GESCHICHTE IN DER GESCHICHTE. LEVON ZOHRAB UND DAS VERSTECK DER KARTEN . Unter den Helden des
Buchs des Flüsterns
war Levon Zohrab derjenige, der die Schuld, überlebt zu haben, am stärksten empfand. Im Unterschied zu Misak Torlakian und anderen,