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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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der Schuld, nicht mit den anderen gestorben zu sein. Auf diesem schuldbeladenen Weg des Überlebens hatte jeder seine eigene Tür gefunden, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften verschlossen halten wollte, aber sosehr er sich auch bemühte, mitunter wurde die Tür aus den Angeln gerissen. Und dann drangen Irrsinnsschwaden durch den offenen Spalt. Die sich im Fall von Micael Noradunghian ebenso wie im Falle von Sahag Șeitanian in eine lebhaft bunte Welt der Karten hinausbegaben und sich wie Drachen schwebend und kreiselnd am Himmel drehten.
    Noradunghian gehörte nicht zur Zunft der Krieger, sondern zu jener der Schöpfer. Im Unterschied zu General Dro hielt er es für nötig, Armenien nicht irgendwie zu befreien; er nährte die Vorstellung, Armenien könne nur in einer freien Welt frei sein. Deshalb hielt er es auch für keine gute Lösung, einen Feind auf den anderen zu hetzen, etwa in der Hoffnung, dass auf diese Weise, was auch immer passieren mochte, immerhin nur einer übrig bliebe. Weshalb er auch das Vorhaben des Generals, eine Armenische Legion zu gründen, nicht gutheißen konnte. Mehr noch, er verbarg seine feindlichen Gefühle gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland keinesfalls. So gelangte er als einer der Ersten auf jene Liste, auf der sich auch mein Großvater Setrak Melichian befand, für den Großmutter Sofia in Erwartung seiner Deportation in das Lager von Târgu-Jiu schon den Holzkoffer mit Schals, Jacken und Wollsocken vollgestopft hatte.
    Auf eine gemeinsame Lösung konnten Noradunghian und General Dro sich erst nach der Katastrophe von Stalingrad einigen, als die Armenische Legion vernichtet worden war und die auf Rache sinnenden Russen deren Reste auf der gesamten Krim-Halbinsel suchten. Ihre Lösung war so einfach wie illusorisch: die Amerikaner. Allein, Noradunghian hatte einen völlig anderen Plan als den, den wir hinsichtlich der Rettung durch die Amerikaner erfahren haben: Im Unterschied zu allen anderen, die eifrig die Zeitungen lasen, mit dem Ohr am Radiogerät hingen und gierig allerlei Gerüchte aufschnappten oder, wie Arșag, starren Blicks durch das Fensterchen im Glockenturm starrten und auf die Ankunft der Amerikaner warteten, hatte Noradunghian einen Plan ausgearbeitet, der vorsah, dass wir zu den Amerikanern gehen. Er hatte ihn schon zu der Zeit entworfen, als die Freimaurerei, kurz vor dem Beginn der Königsdiktatur, zum Schweigen gebracht worden war. Kurz, Rumänien sollte sich zum neunundvierzigsten Mitglied der Vereinigten Staaten von Amerika erklären. Diese die Monroe-Doktrin auf den Kopf stellende Idee sollte auf dem allereinfachsten Weg umgesetzt werden. Rumänien würde die amerikanische Verfassung annehmen, die bestmögliche Verfassung der Welt, denn sie ging auf Freimaurer zurück, es würde den Dollar als nationale Währung erhalten, stark nicht allein durch seinen Tauschwert, sondern ebenso aufgrund der Freimaurersymbole auf den Banknoten. Die Vorteile waren unschätzbar: Man war Teil einer Republik, Rumänien konnte Carol II. loswerden, gleichzeitig war man der Gefahren ledig, die einerseits von Deutschland und andererseits von der Sowjetunion drohten. Da nun Rumänien nicht eben ein verschnürter Strohhaufen war, den man im nördlichen Balkan schultern und über den Ozean hätte transportieren können, und weil andererseits diese Idee in einem frankophonen Rumänien, das seine eigenen Helden hatte und in seiner gesamten Geschichte Amerikanern bestenfalls in Filmen begegnet war, gelinde gesagt ungewöhnlich, wenn nicht geradezu verrückt wirken musste, hielt Micael Noradunghian seinen Plan für nicht durchführbar – eben weil er zu einfach, also nicht verwegen genug war. Nach Stalingrad begriffen Micael Noradunghian und General Dro, der eine erfreut, bitter der andere, dass von den zwei sich bekriegenden Feinden nur einer, der gefährlichste, übrig geblieben war, und zwar die Sowjetunion, also kamen sie überein, dass sich die amerikanische Lösung unbezweifelbar aufdrängte. Jeder versuchte, auf seine Weise dieses Problem zu lösen: General Dro verschwand im Frühjahr 1944 und hinterließ in seinem Haus mit den armenischen Symbolen in der Bukarester Popa-Soare-Straße allein Partogh, den Glöckner der Armenischen Kathedrale, dessen Nasenbein zu Beginn des Jahrhunderts, als er Torwart bei Fenerbahce war, von einem Ball zertrümmert worden war. Er musste die Blumen gießen, die Wohnung lüften, indem er die Fenster zur Straße hin

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