Buch des Flüsterns

aus Büchern zu lernen. Sie traten als Lehrjungen in die Berufe ein, die ihnen zukamen, und wenn der Beruf etwas komplizierter war, wurden sie Gesellen, nahmen danach die Stelle des Meisters ein und führten das Gewerbe weiter. Wenn die Befähigungen angeboren und offensichtlich waren, begann man gleich auf eigene Faust, betrieb sein Handwerk oder Geschäft sogar ohne Tresen und Werkbank, indem man seine Werkzeuge oder Waren zu den Behausungen der Leute trug. Auch wählte man sich sein Gewerbe nicht aufs Geratewohl, dafür musste es einen Spielraum geben, sowohl auf der Seite der Handwerker wie bei der Kundschaft. Und das bedeutet, dass man seinen Platz, ebenso wie dies die Wünschelrutengänger mit ihren Haselnussruten taten, wenn sie den besten Platz zum Graben eines Brunnens erkundeten, finden musste. So gesehen, waren die Armenier ein Volk der Haselnussruten. Eine Geschichte, die erzählte, wie die nach 1915 nach Rumänien gelangten Armenier sich dem Handel und anderen Berufen gewidmet, wie sie sich in einer Welt, die sie nicht kannten, ihren Platz verschafft und gesichert, wie sie ihre Lücken gefunden haben, eine solche Geschichte könnte heute für jedermann ein nützliches Geschäftshandbuch abgeben. Und die Beschreibung der Weise, in der Micael Noradunghian seine Geschäftstätigkeit entfaltet hat, wäre darin ein beispielgebendes Kapitel. Er hat keine Geschäfte begründet, sondern wieder angeknüpft, wobei er sich von den politischen Implikationen, die er übrigens verachtete, nicht behindern ließ. Sodass er, nachdem er mit dem zaristischen Russland während des Krieges und danach mit den Weißen, die gegen die Bolschewiken kämpften, Waffengeschäfte betrieben hatte, nach der Niederschlagung der Weißen der bolschewistischen russischen Armee Waffen verkaufte. In Rumänien vertrat er die Levante-Gesellschaft und kam mit den Schiebereien der Zeit bestens zurecht, also gingen bei ihm große Bestellungen der Armee und der Eisenbahn ein. Er setzte seine Geschäfte fort und verlegte seine Firma in die Calea Victoriei, einen Steinwurf entfernt vom Haus des Hartin Fringhian am Palastplatz. Selbstverständlich widmete er sich auch den Dingen, die er schon im Osmanischen Reich gelernt hatte, nämlich Post- und Telegrafendienste zu leiten, wodurch er zu einem der Direktoren der Bukarester Telegrafengesellschaft wurde.
    Jenseits dieser Betätigungen, die ihn als großen Kaufmann zeigen, und entsprechend der Bescheinigungen des Innenministeriums hinsichtlich der Verleihung der rumänischen Staatsbürgerschaft an einen, der sich »große Verdienste um Rumänien erworben hat«, erfüllte Noradunghian die Mission, die ihn auf Geheiß des Obersten Konsiliums Frankreichs nach Rumänien geführt hatte. Bis Ende Dezember 1922 hatte Micael Noradunghian die dreizehn Mitglieder im Obersten Konsilium des Antiken Schottischen Ritus für Rumänien initiiert und mit Zustimmung von König Ferdinand den Freimaurerorden in Rumänien wieder zum Leben erweckt. Noradunghian unterschrieb im März 1923 das Hohe Dekret, durch welches die Statuten, die Verfassung und das allgemeine Regelwerk des Antiken Schottischen Ritus mit Akzeptanz für Rumänien veröffentlicht wurden, daraufhin erhielt er den höchsten Rang in der rumänischen Freimaurerei, nämlich jenen eines Souveräns und Großen Kommandeurs des Obersten Konsiliums vom 33. und Letzten Grad in Rumänien, den er, weil er meinte, die rumänischen Freimaurer müssten von Rumänen geführt werden, lediglich ehrenamtlich ausübte.
    Immer gibt es etwas, das jeder Biografie entgeht, umso mehr einer rätselhaften wie die, von der wir hier erzählen. Und zwar die Leidenschaft, die so verschiedene Menschen wie den Souverän und Großen Kommandeur Micael Noradunghian, General Drastamat Kanayan und den Kolonialwarenhändler aus Focșani, Sahag Șeitanian, sowie viele andere von denen erfasst hatte, die im
Buch des Flüsterns
vorkommen oder erahnt werden. Yusufs Geschichte. Es gibt auch andere Geschichten, die von seltsamen Gestalten in den Seelen der alten Armenier erzählen, und all diese Gespenster nutzten jede Gelegenheit – ein Fenster oder einen Spiegel, einen Duft, der an den Urquell einer Geruchswahrnehmung erinnerte, einen Namen oder ein Foto – um sich erneut zu zeigen. Aber Yusufs Geschichte ist darunter die umfassendste. Jeder hatte seine je eigene Weise, sich in eine Art Yusuf aufzuspalten, und musste dies mit sich herumtragen, denn sie alle hatten überlebt. Somit trug jeder an