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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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vorbei, sagte er in seinem schönen, im Robert College in Konstantinopel gelernten Armenisch. Er erzählte ihm, wie er die Freimaurerei hatte einschlafen lassen und damit begann, ihre wertvollsten Gegenstände und Symbole in Sicherheit zu bringen. Und Micael Noradunghian galten die Landkarten als die allerwertvollsten Gegenstände, diese durften unter keinen Umständen in die Hände der Securitate gelangen. Warum ausgerechnet ich?, fragte Levon Zohrab. Weil du etwas davon verstehst. Bei dir sind sie in Sicherheit. Mit dir haben die keine Rechnung mehr offen, sie haben dir schon alles genommen. Bis auf die Gespenster, hätte er sagen können, aber diese teilte Levon Zohrab ebenso wie er mit niemandem, folglich hätte auch die Securitate mit all ihrem aggressiven Schnüfflergeschick sie nicht finden und ihnen wegnehmen können. Aber ich bin fast genauso alt wie du, gab Levon Zohrab zu bedenken. Und ebenso einsam. Du wirst sie zur gegebenen Zeit weiterreichen. Jedenfalls wird niemand mehr deine Einsamkeit stören. Seit damals sind sie sich nicht mehr begegnet. Als der Prozess begann und die Ermittler nach den Karten fragten, wusste niemand, wo sie zu finden wären, denn sie beide waren nicht mehr am Leben, und die Karten wurden nicht gefunden, obwohl es sie immer noch gab.
    Micael Noradunghian aber hatte sich geirrt. Das kommunistische Regime hatte mit Levon Zohrab noch eine Rechnung offen. Und zwar, weil sie – auch hierin war Noradunghian fehlgegangen – Levon Zohrab noch nicht alles genommen hatten, die Ehre war ihm geblieben. Weil ihm der Blick seines Vaters, wie er ihn von seinem Versteck hinter dem Vorhang zuletzt gesehen hatte, ins Gedächtnis eingebrannt geblieben war, fühlte er sich während seines gesamten Lebens von diesem Blick angeschaut, streng und ohne mit der Wimper zu zucken, hinderte er ihn daran, etwas zu tun, was des Namens Zohrab nicht würdig gewesen wäre. Genau deshalb brauchten die Kommunisten ihn zu einer bestimmten Zeit, genauer: sein Ehrenwort. Im gleichen Sommer 1948 drangen vier Männer in Lederkluft in Levon Zohrabs Mansardenzimmer und zwangen ihn, indem sie ihm von beiden Seiten mit den Händen auf die Schultern drückten, sich an den Tisch zu setzen. Zohrab dachte erschrocken, es gehe um die Karten, und rügte sich im Stillen, sie angenommen zu haben. Aber jene Männer waren nicht auf der Suche nach den Karten, überhaupt suchten sie nichts, das man vorher etwa hätte verstecken können. Sie suchten nur, was sie zu finden wussten, weil es sichtlich vorhanden war, und zwar das Telefon. Sie nahmen es vom Nachtkästchen und stellten es vor ihm auf den Tisch. Dann waren aus dem Treppenhaus Schritte zu hören, und ein weiterer Mann betrat das Zimmer. Er trug keinen Ledermantel, sondern einen dünnen Sommeranzug, der irgendwie unordentlich über seinem dicken Leib hing. Er erweckte nicht den beängstigenden Eindruck der anderen, im Gegenteil, er zog den Hut vor dem erstarrten Alten und bemühte sich um eine Höflichkeit, die, selbst wenn man sie unter diesen Umständen für etwas übertrieben halten mochte, überhaupt nicht gezwungen wirkte. Im Unterschied zu den anderen legte der neu Angekommene seinen Hut neben das Telefon, blieb aufrecht stehen, vielleicht aus Respekt, vielleicht auch nur zum Zeichen, dass er nicht lange zu bleiben wünschte, lächelte und sagte: Ich bin Chivu Stoica 23 – und zwar in einem Ton, als wären damit gleich mehrere Dinge geklärt. Als er diesen Namen hörte, wollte Levon Zohrab sich erheben, aber die Hände der Männer lagen schwer auf seinen Schultern und drückten ihn auf seinen Stuhl. Der Mann warf ihnen einen tadelnden Blick zu und wandte sich an den Alten: Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Zohrab. Er hatte »Herr« gesagt, und zwar ohne ironischen Unterton, hatte die Unterschiede zwischen den verschiedenen Welten, denen sie angehörten, akzeptiert, selbst wenn seine die neuere war und über die andere herrschte. Wir möchten Ihnen nichts Böses tun, wollen weder Sie noch irgendetwas aus Ihrem Besitz mitnehmen. Wir benötigen nichts als Ihr Ehrenwort.
    Chivu Stoica zog einen Zettel aus seiner Tasche und legte ihn dem Alten auf den Tisch. Wissen Sie, was das ist, Herr Zohrab? Der Alte setzte die Brille auf, um lesen zu können. Dann reichte er das Papier zurück. Es ist eine Telefonnummer aus der Türkei, sagte er. Sie kennen diese Telefonnummer, nicht wahr, Herr Zohrab, lächelte Chivu Stoica nunmehr, wie es schien, etwas weniger freundlich. Unter

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