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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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weiße Pferd hat endlich seinen Reiter gefunden, nicht wahr? Und wer könnte das sein?, fragte Sahag, der seinerseits eines schönen Tages kreuz und quer durch seine Träume reiten sollte. Misak, wer sonst ...
    Mittlerweile waren mit der Freilassung der politischen Gefangenen und der Überwindung der Raketenkrise in den Elektrogeschäften von Focșani Radioapparate mit Kurzwellenempfang aufgetaucht, was zur Folge hatte, dass man mit den entsprechenden Vorsichtsmaßregeln zuhause sogar Free Europe, Radio Liberty und die BBC hören konnte. Sodass das Radio selbst, einmal das Einschalträdchen kurz gedreht, den millimetergroßen Wellenanzeiger durch das Knacken und Rauschen bewegt, zu einer Gestalt im
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wurde. Wahrscheinlich traf sich das Kirchenkomitee deshalb nicht mehr in Seferians Gruft, der Telefunken war nun im Bereich der Wellen nicht mehr der einzige Zugang zur freien Welt.
    Man hatte das Radio in Sahags Zimmer unter einer Stickerei installiert, die den Troubadour Sayat Nova darstellte. Der Anschluss des Gerätes an die freie Welt war ein richtiges Ritual. Wir Kinder waren, wie übrigens auch die Frauen, nicht zugelassen, aber aus unterschiedlichen Gründen; wir, weil man uns in der Schule aushorchen konnte, und die Frauen, weil sie nichts verstanden, aber verstehen wollten, weshalb sie fortwährend dazwischenfragten. Onkel Sahag hob das bestickte Tuch ab, faltete es und legte es auf das Nachtkästchen. Dann setzte er sich hin, rief nach der Konfitüre und bat Großvater herbei. Die Sendersuche lief jedes Mal gleich ab. Denn nach jedem Hören stellte Sahag auf die Mittelwelle um, auf der man Radio Bukarest empfing – wer weiß, die sind überall, wir dürfen uns keine Blöße geben, wie die Idioten, welche »die«?, fragte Tante Armenuhi, als sie das Tablett mit der Konfitüre brachte; sie, antwortete Onkel Sahag, die also, die nicht wir sind. Die Konfitüre war rosa, aus den Rosenblättern im Garten gemacht, und sie war klebrig, um das Löffelchen bildete sie einen Klumpen, und Löffelchen samt Konfitüreklumpen wurden in ein Kristallglas mit kaltem Wasser gesteckt. Die Konfitüre wurde nur in Kristallgläsern, niemals in einem anderen Gefäß serviert, damit man in deren Klarheit die rosa Paste wie eine Frucht des Wassers betrachten konnte. Wenn die Konfitüre alle war, ganz gemächlich wie ein Bonbon gelutscht und mit der Zunge über den Gaumen gestrichen, tranken die alten Armenier meiner Kindheit das im Glas verbliebene Wasser in kleinen Schlucken. Möglicherweise hatten sich meine Alten, mein Pate Sahag und Großvater Setrak, diese Gewohnheit auf den Irrwegen ihrer Kindheit angeeignet, auf den Wegen durch die Wüste, als das wenige Wasser, das man fand, eher zum Kosten denn zum Trinken gereicht hatte. Also setzten sich die beiden mit dem noch unberührten Konfitürentablett in die Sessel und beugten sich zum Radio hinunter, als hätten sie vor, miteinander zu flüstern. Dann stellte Sahag auf Kurzwelle um und ließ die Anzeige über die Skala wandern, wobei er den Frequenzknopf ganz sachte bewegte; und die Wanderung des Anzeigers wurde von Knacken, Rauschen und kleinen Redefetzen in allerlei Sprachen begleitet. Schneller, sagte Großvater, wir verpassen die ersten Meldungen ... Sahag beeilte sich nicht, er fuhr mit dem Anzeiger ein bisschen weiter, als nötig gewesen wäre, dann ein bisschen zu weit zurück, betastete und beschnupperte die Umgebung, als spürte er eine Beute auf, und fixierte schließlich die senkrechte Nadel an der besten Stelle, dann hörte er ein paar Sekunden zu, fingerte vorsichtig noch ein bisschen am Rädchen herum, nickte zufrieden, griff nach dem Konfitüreglas und hörte mit gesenktem Kopf zu. So verlockend es auch gewesen sein mochte, das eine oder andere zu kommentieren, sie schwiegen, bis die Nachrichten beendet waren, warfen sich hin und wieder einverständige Blicke zu, siehst du, genau so, wie ich es dir gesagt hatte ... (Großvater), oder: ... geschieht ihnen recht, den Bolschewiken (Sahag), aber die Kommentare sparten sie sich für nachher auf, wenn die Konfitüre alle war und sie in kleinen Schlucken das Rosenwasser tranken.
    An jenem Nachmittag wurde ihr Ritual plötzlich in dem Augenblick unterbrochen, da Sahag Șeitanian die Finger von dem Knopf nahm, an dem er mit einem gemächlichen Wonnegefühl gedreht hatte, und gefolgt von seinem Schwager Garabet Vosganian das Löffelchen mit Konfitüre ergriff, um mit der Zungenspitze darüberzufahren. Den

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