Buch des Flüsterns
gab er ihm einen Wink, zu schweigen, dann bat er ihn zu einem Spaziergang durch den Hof, rings um die Kathedrale, wo sie, zwar nicht vor fremden Blicken, dafür umso mehr vor fremden Ohren geschützt waren. Abends kehrte Großvater ziemlich verstört nach Focșani zurück, aber wir führen diese Verstörung nicht auf die Verhältnisse zurück, in denen sich der Bischofssitz befand, denn solche Dinge geschahen in jenen Jahren recht häufig, sondern vielmehr auf das Gespräch während des Spaziergangs mit dem Bischof rund um die Kathedrale. Hast du es ihm gesagt?, fragte Sahag Șeitanian. Großvater bejahte. Vergeblich versuchte Sahag, eine andere Antwort zu bekommen, sie kam nicht. Warten wir noch, fügte Großvater dann doch noch hinzu. Seit die Russen gekommen sind, warten wir, was können wir sonst tun? Lass uns abwarten, wenn wieder ein solches Zeichen eintrifft, werde ich ihn verständigen. Bis dahin tun wir nichts, er wird uns sagen, was zu tun ist. Ist es denn so kompliziert?, probierte es Sahag Șeitanian noch einmal. Großvater aber, vielleicht hatte er versprochen, nichts von dem Gespräch mit dem Bischof preiszugeben, möglicherweise dachte er auch an Yusuf, der, selbst so gealtert und geschwächt, immerhin noch wie ein Fremder unter ihnen verblieben war, wiederholte nur noch ohne eine Chance, es sich anders zu überlegen: Warten wir ...
Das dritte Pferdchen, haargenau so wie die anderen beiden, kam nach zwei Jahren. Wieder schlug Großvater das Heft auf, notierte das Datum seines Eintreffens und ließ in Höhe des Namens des Ermordeten eine freie Stelle. Er wartete auf eine andere Nachricht, die ihm helfen konnte, den freien Platz auszufüllen, aber diese kam nicht. Aus einem Postskriptum zum Brief seiner Schwester erfuhr er, dass General Dro in Boston gestorben war. Weil offensichtlich war, dass der aus Buenos Aires eingetroffene Brief ebenso wie die anderen davor in einem schattigen Büro in Bukarest gelesen worden war, was man daran erkennen konnte, dass er aufgrund der Dämpfe wellig geworden und dann eilig wieder zugeklebt worden sein musste, wunderte sich Sahag Șeitanian, dass man ihn hatte durchgehen lassen. Großvater war der Meinung, sie dächten, jede Nachricht, die ihren Empfänger traurig macht und eine Hoffnung in ihm zerstört, eignet sich, verbreitet zu werden. Und was die Reise nach Bukarest betraf, die nun mit diesem neuerlichen Zeichen durch das Holzpferdchen fällig geworden war, so hatte Großvater keine Gelegenheit mehr, sein Versprechen zu halten. Ein paar Monate zuvor war Bischof Vazken Balgian zum Katholikos, also zum obersten Patriarchen aller Armenier gewählt worden und nach Jerewan gegangen. Sodass Großvater nie mehr erfahren hat, wozu er geraten hätte, und Sahag noch viel weniger. Ein paar Jahre nach dem Tod meines Großvaters Garabet, so um 1975, kam Vakzen Balgian, in einem weißen Mantel und mit einer strahlenden Kapuze auf dem Kopf, für ein paar Tage nach Bukarest zurück. Ich befand mich mit meinem Vater im Hof der Kathedrale, mittlerweile waren die Zeiten etwas lockerer geworden, der Bischofssitz war der Kirche zurückerstattet worden, der Hof, durch den Bischof Vazken Balgian und Großvater Garabet spaziert waren, normalerweise leer, war jetzt von einer Menschenmasse überfüllt, darunter Sahag Șeitanian, mein Vater und ich, nunmehr ein groß geratener Heranwachsender mit Schnurrbart. Der Katholikos trat aus der Kathedrale, segnete das Volk, und als er zum Tor ging, sah er in der Menge Sahag und Vater, mich konnte er nicht kennen, und rief ihnen über die Köpfe der Leute zu: Wo ist Garabet? Aber Sahags Antwort ging unter, die Meinen versuchten, näher an ihn heranzukommen, aber sie wurden von der Menschenmasse verschluckt, und die Kapuze des Patriarchen entfernte sich. Mein letzter Versuch, etwas über jenes Gespräch zu erfahren, fand 1994 statt, als ich selbst Katholikos Vazken, diesmal in Armenien, in seinem Salon in Etschmiadsin, begegnet bin, am Sitz der armenischen Patriarchen, dem Ort, wo nach armenischem Verständnis der Einzig Geborene herabgestiegen ist. Ich überreichte dem Patriarchen die Geschenke, die ich mitgebracht hatte, ein paar Bücher in rumänischer Sprache und einen Sack mit Maismehl, denn er sehnte sich nach der Bukarester Mămăliga 28 und den Leuten, die er gekannt hatte, er wusste, wer ich war, aber er wusste nicht, dass ich Garabets Enkel bin; ich sagte es ihm und hoffte, er würde mir sagen, was zu sagen war. Aber der Katholikos war
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