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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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schon krank, er hatte die Hand am Kinn und lächelte versöhnt. Und zu dem, was ich zu erfahren wünschte, sagte er nur: Garabet, ja, ja ... Mittlerweile hatte sich die Welt verändert, die Grenzen hatten jenen auf Noradunghians Karten zu ähneln begonnen, aber nicht auch den Träumen des Generals Dro, denn Armenien war nun eine unabhängige Republik, jedoch auf nicht einmal dreißigtausend Quadratkilometer geschrumpft, isoliert und arm. Vielleicht hätte die Antwort, die Großvater nach dem Erhalt des dritten Pferdchens erwartet und ich nun in seinem Namen mit dem Blick von ihm erbat, heute nicht mehr in die Zeit gepasst.
    Vakzen Balgian, in Bukarest geboren, war nicht durch die Todeskreise gegangen, aber er war der Seelsorger vieler, die diese Leidenszeiten erlebt hatten; von ihnen hatte er die Macht über den Tod erhalten, sodass er auch kam, als er ihn versöhnt mit der Welt herbeirief, und er kurz nach unserer Begegnung starb. Vielleicht wollte er mir auch, als er Großvaters Namen hörte, andeuten, dass er mir das nicht zu sagen bräuchte, zumal sie beide sich sehr bald schon wiederbegegnen würden.
    Das vierte Pferdchen kam kurz nach dem dritten. Dies kommt nun wegen General Dro, sagte Großvater, Misak hat sich beeilt, damit wir nicht glauben, dass mit dem Tod des Generals alles vorbei ist. Mit anderen Worten, damit wir nicht die Hoffnung verlieren. Von welcher Hoffnung sprichst du, Garbis, seufzte Sahag. Sieh dich doch um ... Lauter absurde Dinge. Umso mehr ..., sagte Großvater. Und nachdem sie so eine Weile im Hof gesessen, das Holzpferdchen angeschaut, und Großvater seine Ankunft durch das Hinzufügen einer weiteren Zeile in seinem der Operation »Nemesis« gewidmeten Heft verzeichnet hatte, sagte er zu Sahag: Komm. Er steckte das Pferdchen in die Tasche, sie gingen durch die Straße des 6. Mai, früher Dulapuri, bogen dann ab auf die Schneeglöckchenstraße und von dieser auf die Gerberstraße, die Straße der Friedhöfe. Auf dem armenischen Friedhof fanden sie eine geschützte Stelle, jedes Mal eine andere. Zwei volle Schaufeln reichten aus, um ein kleines Loch auszuheben und das Pferdchen zu begraben, dann wurden sie zurückgeschaufelt und das Hügelchen mit den Handflächen glattgedrückt. Dann sprach Großvater aus dem Groll heraus, den er dem feuchten, alles bedeckenden Erdreich gegenüber empfand, das
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, also das Vaterunser, und schlug das große Kreuz. Es ist schon seltsam, sagte Sahag, wir wissen nicht einmal, wen wir begraben. Und wer es auch immer gewesen sein mag, ein Christ konnte es nicht gewesen sein. Kann nichts schaden, erwiderte Großvater. Wenn sein Gott sie nicht annimmt, ist es seine Sache, dann bleiben eben sowohl das Kreuz als auch das Gebet uns überlassen. Auf diese Weise empfing der Schrein neue Antworten, die sich, von den Leuten unverstanden, wiederholten. Und nachts züngelten von der Fäulnis unterhaltene Flämmchen auf dem Friedhof.
    Das fünfte Pferdchen kam uns einige Jahre später ins Haus geflattert. Großvater Garabet und Sahag Șeitanian hatten mittlerweile angenommen, die Dinge hätten sich endgültig beruhigt. Deshalb waren meine alten Armenier noch unvorbereiteter als bei der Ankunft des ersten. Vielleicht sind sie darum auch etwas nachlässiger mit ihm umgegangen, sodass das auf der Stellage vergessene Pferdchen mich erblickte und dachte, ich sei der Knabe, von dem sich ein anderes ebensolches Pferdchen vor beinahe sechzig Jahren getrennt und eingewilligt hatte, mein Spielzeug zu werden.
    Wenige Tage nach der Ankunft dieses fünften Pferdchens, das sich unter meine Spielsachen mischte, wurde Präsident Kennedy erschossen. Meine alten Armenier trafen sich zum letzten Mal in Seferians Gruft. Das Holzpferdchen war in meine Tasche geschlüpft und hatte dort stillgehalten, während ich auf den Alleen des Friedhofs mit Kastanien und Nüssen spielte. Sahag verfolgte es mit den Blicken, aber Großvater schaute ihn rügend an und versagte es sich strengstens, auch nur ein Wort über jene seltsamen Botschaften von Misak Torlakian zu verlieren, selbst dann, als Sahag begonnen hatte, von den Waffen des Generals Dro zu sprechen.
    Das sechste Pferdchen kam kurz danach. Damals ging auch meines verloren. Sicher hat Sahag, der es nicht aushielt, zuzuschauen, wie ich mit diesem Todesboten spielte, es versteckt und zusammen mit dem sechsten auf den Friedhof mitgenommen, sodass Großvater zweimal das Vaterunser sprechen musste. Aber die Sache war geschehen. Das Pferdchen

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