Buch des Flüsterns
hatte mich ausgesucht, und mir blieb keine Wahl, ich war zum Erzähler bestimmt worden.
Mittlerweile schienen sich die Dinge wieder etwas zurechtzurücken. Im Jahr 1964 begannen die aus politischen Gründen Verurteilten allmählich wieder heimzukehren. Nachdem meine Urgroßmutter und mein Onkel Simon schon gestorben waren, als ich zwei Jahre alt war, sodass ich mich nicht an sie erinnere, war Carol Spiegel der dritte Tote aus unserer Bekanntschaft. Aber seinen Tod habe ich bloß als ein schwarzes Kleid gesehen, das Frau Spiegel mit einem Mal zu tragen begonnen hatte. Die Erwachsenen hatten verschiedenste Angewohnheiten, sie tranken Kaffee, manche, etwa Ștefănucă Ibrăileanu, rauchten, wieder andere, beispielweise Ohanes Krikorian, regten sich auf und bekamen dabei ein knallrotes Gesicht. Sie spielten Tavla oder Ghiulbahar, indem sie die Würfel in einem Becher schüttelten, hatten somit allerlei Beschäftigungen, die wir Kinder nicht ausprobieren oder verkosten durften. Und der Tod schien eine davon zu sein. Wir durften keinen Kaffee trinken, obwohl wir manchmal heimlich die Untertassen ableckten, in die etwas Kaffee verschüttet worden war, weil die Hände unserer Großeltern, die das Tablett mit den Kaffeetassen in den Hof hinaustrugen, im Alter zu zittern begonnen hatten. Ebenso durften wir nicht sterben, wiewohl sich der Tod schon in meinem Kinderkopf eingenistet hatte, und sei es auch nur ein klein wenig, wie der auf die Untertasse übergeschwappte Kaffee.
Manchmal schloss Großvater sich in seinem Zimmer ein, spielte Geige und summte Klagelieder. Der Tod kam zu ihm, und sie sprachen über die lange Schar von Toten. Der Tod erzählte von den alten Toten, sie waren die einzigen, über die er sprechen durfte, schließlich gehörten sie tatsächlich ihm, die neuen Toten erschienen mit fahlen Gesichtern und strahlenden Augen hinter den Fensterscheiben, glitten wie Salböl daran hinab. Großvater erzählte dem Tod von mir, von unseren Spaziergängen im Park, durch die Alleen mit roten Blumen und üppig schweren Blättern, über unsere Karambolage-Spiele mit Kastanien, über den Wal Moby Dick, den wir Kinder uns verängstigt, auf dem Viehmarktgelände auf einem Tieflader ausgestellt, anschauten, davon, wie wir zusammen Geige und Klavier spielten, Schuberts
Serenade
oder das
Menuett
von Boccherini, und wie wir versucht hatten, als das Licht unaufmerksam war, die Spiegel zu fotografieren. Aus alledem begriff der Tod, dass mein Großvater noch das eine oder andere auf der Welt zu tun hatte, also erfand er eine Entschuldigung und machte sich davon. Wo der Tod gestanden hatte, auch nur ganz kurz, blieb etwas zurück, eine Melancholie, ein Dunstschatten auf dem Spiegel, eine fotografische Platte, die zu viel Licht bekommen hatte, und wenn Großvater herauskam, waren seine Augen eingefallen, es war sinnlos, auf ihn einzureden, denn er antwortete nicht, setzte sich bloß unter den Aprikosenbaum im Hof. Die neuen Toten stiegen von Bäumen herab, kamen zwischen den Gräsern hervor, zischelten wie die Hausschlange, ließen sich, nachdem sie stets kleiner werdende Kreise gedreht hatten, mit angelegten Flügeln herabsinken und setzten sich ringsum nieder, während Großvater ihnen aus dem
Buch des Flüsterns
vorlas, das sich während meines Heranwachsens schrieb, und sie stimmten dem Gehörten zu, denn im Unterschied zu den alten Toten fanden die neuen Toten ihre Ruhe eher dann, wenn man möglichst viel von ihnen sprach.
Dann schloss Großvater das Buch und legte es beiseite. Vom Tisch her schaute ihn das siebte Pferdchen an. Die neuen Toten öffneten den Kreis, indem sie sich ineinander verzogen, bis sie verschwunden waren, jeder auf dem Weg, den er gekommen war. Ein kühler Wind blieb zurück, es war Anfang November. Ich hole das Heft, sagte Sahag Șeitanian. Ist wahrscheinlich nicht mehr nötig, sagte Großvater Garabet. Mit diesem Pferdchen stimmt etwas nicht. Es war genau so wie alle anderen, mit dem Taschenmesser aus Holz geschnitzt, man konnte die Kerben der Klinge gut erkennen, das Maul war aufgrund der seitlichen Kanten etwas spitz geraten. Es ist weiß, sagte Großvater. Die anderen waren aus rohem Holz, Nussbaum, dieses ist angestrichen. Und was könnte dies bedeuten? Dies ist ein anderes Pferdchen, es ist das Pferd aus einem Traum. Es ist weiß, das Pferd aus Misaks Traum. Erinnerst du dich, es galoppierte aufgezäumt, aber allein und blutete. Aber dieses Pferdchen ist nichts als weiß ... Man könnte sagen, das
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