Buch des Todes
August 2010
F elicia Stone starrte müde auf ihr neues iPhone. Sie hatte es erst vor zwei Tagen gekauft, hasste es aber bereits jetzt. Mordermittler hassten alles und jeden, der sie mitten in der Nacht oder wie jetzt am frühen Morgen weckte. In der Regel bedeutete das einen neuen Tatort, eine neue Leiche in beginnendem Verwesungszustand, ein weiteres zerstörtes Leben und die neuerliche Jagd nach einer verlorenen Seele. Was immer sie dieses Mal erwartete, sie brauchte erst einen Kaffee.
Sie schob sich aus dem Bett, in dem sie alleine schlief, nahm das Telefon mit und meldete sich auf dem Weg zur Kaffeemaschine auf der Anrichte, die das Wohnzimmer von der Küche trennte. Es war Patterson, der sogleich mit einer seiner typischen, unnötig langen Einleitungen und folgenden Aneinanderreihung von Mutmaßungen und Überlegungen, die für den Fall in der Regel völlig irrelevant waren.Aber das machte nichts. Sie stellte den Lautsprecher des Telefons an, füllte die Filtertüte mit Kaffee und goss Wasser in die Maschine. Gleich darauf wurden Pattersons Überle gungen von einem wohlvertrauten Gurgeln und Zischen begleitet.
Als er zum Ende gekommen war, ließ sie die Details auf sich wirken. Das schien keiner der üblichen Fälle zu sein. Hier ging es nicht um Eifersucht, Gier oder Drogen. Es war noch früh am Morgen, aber sie spürte instinktiv, dass sie vor ihrem ersten wirklich großen Fall stand, seit sie als Ermittlerin der Mordkommission angefangen hatte. Ein Fall, wie man ihn vielleicht nur einmal im Leben bekam. Sie hatte keine Ahnung, ob sie bereit dafür war oder nicht.
Bevor sie auflegte, gab sie ihren einzigen Beitrag zum Gespräch:
»Ich kann in zwanzig Minuten am Museum sein«, sagte sie.
Sie verschwand im Bad und wusch sich rasch das Gesicht. Felicia Stone war Anfang dreißig und sah jünger aus, wenn auch verschlafen und mit leichten Ringen unter den Augen, doch damit konnte sie leben. Ihre dunklen Haare glänzten jugendlich, und sie hielt sich schlank, wobei ihr das eigentlich gar nicht so wichtig war. Sie zog die gleichen Sachen wie am Tag zuvor an, Bluse, Jacke und die leichte, weite Hose mit der Polizeimarke am Gürtel.Als Ermittlerin musste man darauf achten, sich einen Tick besser zu kleiden als die männlichen Kollegen, aber eben nur einen Tick. Formell und unsexy, was ihr ganz recht war.Wenn sie arbeitete, war sie geschlechtslos. Privat vielleicht auch, dachte sie manchmal. Sie steckte die Dienstwaffe ins Halfter unter der Jacke und verließ die enge Wohnung, ohne sich zu duschen oder zu schminken.
Im Auto dachte sie an die Lyrikstunden, die sie auf der Highschool gehabt hatte. Ihr Lehrer hatte eine besondere Vorliebe für Edgar Allan Poe gehabt, weshalb Felicia mehr über diesen Autor wusste als die meisten anderen, die sie kannte.Allerdings hätte sie nie geglaubt, dass ihr das für ihre Arbeit als Polizistin einmal dienlich sein könnte. Bis zum heutigen Tag.
Was sie an Poe am meisten faszinierte, war sein mysteriöser Tod.
Edgar Allan Poe verbrachte große Teile seiner Kindheit bei seinen Pflegeeltern in Richmond, Virginia. Dort studierte er auch eine gewisse Zeit an der Universität, bevor er zum Militär ging. Danach ist er nicht wieder nach Virginia zurückgegangen. Umso erstaunlicher war es, dass er ausgerechnet in Richmond zum letzten Mal seine fünf Sinne beisammengehabt hatte.
Am 27. September 1849 verließ Poe Richmond, wo er eine Vorlesung gehalten hatte. Der unstete Autor wollte weiter nach Philadelphia, um die Gedichtsammlung Wayside Flowers der weniger bekannten amerikanischen Lyrikerin Marguerite St. Leon Loud zu lektorieren. Nach mehreren schwierigen Jahren mit hohem Alkoholkonsum hatte Poe eine seiner guten Phasen, hieß es, und seit mehr als sechs Monaten hatte ihn niemand mehr auch nur einen Schluck Alkohol anrühren sehen.
Nachdem er im Zug Platz genommen hatte, verging gut eine Woche, in der niemand den Autor gesehen hatte.Als er endlich wieder auftauchte, war das nicht in Philadelphia, sondern in Baltimore, Maryland. Poe war in einer schrecklichen Verfassung, sodass gleich der Arzt Joseph E. Snodgrass gerufen wurde. Er kannte Poe von früher und bemerkte, dass seine Kleider nicht die richtige Größe hatten. Im Washington College Hospital in Baltimore fiel Poe dann in eine Art Delirium. Die Phasen, in denen er klar und anwesend wirkte, dauerten nicht lange genug an, damit er erklären konnte, was geschehen war. In der vierten Nacht im Krankenhaus begann er mit
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